Die Liebe

Sag' an, o Lied, was an den Staub

Den Erdenpilger kettet,

Daß er auf dürres Winterlaub

Sich wie auf Rosen bettet?

Das bist du, süsse Liebe! du!

Du giebst ihm Trost, du giebst ihm Ruh'

Wenn Laub und Blumen sterben!


Und, ach! wenn sein zerrißnes Herz

Aus tausend Wunden blutet,

Was sänftigt dann den Seelenschmerz

Der drinnen ebb't und fluthet?

O Liebe! Liebe! Oel und Wein,

Träufst du den Todeswunden ein,

Tränkst ihn mit Himmelsfreuden.


Wenn ihn Verzweiflung wild umfängt,

Mit hundert Riesenarmen,

Gewaltig ihn zum Abgrund drängt,

Wer wird sich sein erbarmen?[89]

Du, Liebe! du erbarmst dich sein,

Führst ihn, wenn tausend Tode dräun,

Noch sanft zurück ins Leben!


Wenn er am Sterbebette weint

Von Todesgraun umnachtet,

Wo angstvoll seiner Jugend Freund

Dem Grab' entgegen schmachtet,

Was stillt dann des Verlaßnen Gram?

O Liebe! was der Tod ihm nahm,

Giebst du verschönt ihm wieder!


O Liebe! wenn die Hand des Herrn,

Der Welten Bau zertrümmert,

Kein Sonnenball, kein Mond, kein Stern,

Am Firmament mehr schimmert:

Dann wandelst du der Erde Leid,

Gefährtin der Unsterblichkeit!

In Siegsgesang am Throne!

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 87-90.
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