[90] An Gerstenberg.
Saht ihr, in stiller Sommernacht, den Mond
Durch melancholische Zypressen schaun,[90]
Wann ringsumher die feiernde Natur
In Schlummer sank und kaum zu athmen schien,
Und jedes Herz in süsser Wehmuth schmolz?
Saht ihr, vom goldnen Abenddämmrungslicht
Sanft angestralt, in stiller Majestät,
Helveziens beeiste Gipfel glühn?
Saht ihr, wie dort vom schroffen Fels der Rhein,
Gleich immerdonnernden Gewittern, sich
In hochgethürmte Schaumgebirge stürzt?
Ha! selbst der hundertjähr'gen Eiche Stamm
Ist seinen Riesenwogen hier ein Spiel!
Saht ihr, vom Sturm empört, den Ozean,
Mit ungezähmter Wuth, bald himmelwärts
Verschlagne Flotten schleudern, bald hinab
Zur schwarzen Tiefe stürzen, donnernd sich
Noch einmal heben, und die Leichen dann
Hochbrandend schmettern an das Felsgestad?
Saht ihr dies alles, so beschwör' ich euch,
O Dichterlinge! bei den Grazien
Und Musen! bei des Mäoniden Geist!
Bei jenen Höh'n, die Klopstocks Genius
Zuerst erschwebte! bei dem Harfenklang
Von Fingals Barden! bei Petrarkas Quell!
Beim Lorbeerbaum der Maros Grab umrauscht!
Bei jenem Paradies der Feeerei
Wo einst Rinaldos Heldenkraft erlag!
Bei Miltons Lichtgruß! bei dem düstern Flor
Um Dantes Nachtstück: Ugolinos Tod!
Bei Hamlets Seyn und Nichtseyn! beim Erguß
Des Vaterherzens an Narzissas Gruft![91]
Bei Wielands rosenfarbner Zauberwelt!
Bei Uzens Sonnenflug, bei Allem was
Dem Dichter heilig ist, beschwör' ich euch:
Entweihet nicht das Allerheiligste
Der göttlichen Natur, in Red' und Sang,
Durch leeres Wortgeschäum von Seelensturm,
Von Schwung und Allkraft, Drang und Hochgefühl!
Denn wisset, es verschmäht die Göttliche
Der Dichterlinge Kainsopfer, winkt
Dem Sturm der Zeit, lautzürnend, zu verwehn
Den schwarzen Dampf, der ihr ein Gräuel ist!