Bacchus in Bünden

[68] Wo stürzend aus rätischen Klüften der Rhein

Um silberne Hüften sich gürtet den Wein,

Ziehn paukende Masken mit Zimbelgeläut:

»Du Traube von Trimmis, dich wimmeln wir heut!«


Sie treten den Reigen, sie stampfen den Chor,

Da dunkelt's und lodern die Fackeln empor:

Ein Kranz in den Lüften! Ein wirbelndes Paar!

Ein brennender Nacken! Ein purpurnes Haar!


Die Fackeln verlöschen. Es hebt sich der Glanz

Des schimmernden Monds und vergeistert den Tanz –

Ein adliger Jüngling von fremder Gestalt

Bemeistert den Reigen mit Herrschergewalt.


Er schwebt in der Mitte, bekränzt und allein,

Mit leuchtenden Füßen in himmlischem Schein,

Die Schulter umflattert getigertes Fell,

Er trägt einen Szepter, der kühne Gesell.


Er neigt ihn vor Irma, der träumenden Maid:

»In nachtdunkle Haare taugt blitzend Geschmeid!«

Er greift in den Himmel mit mächtiger Hand,

Er raubt aus den Sternen ein flimmerndes Band:
[68]

Schön Irma schwebt hin mit dem Krönlein von Licht,

Als fesselte fürder die Erde sie nicht,

Er schwingt ihr zu Häupten den Thyrsus, umrankt

Mit üppigem Laube, von Trauben umschwankt...


Zwölf Schläge verkünden die Mitte der Nacht.

Der Reigen ermüdet. Das Fest ist vollbracht!

»Herunter die Masken! So will es der Brauch!

Du Führer des Reigens, entlarve dich auch!


Wir sind unser zwanzig, und voll ist die Zahl!

Wer bist du, der frech in die Gilde sich stahl!

Ein Gaukler? Ein Zaubrer? Sprich, wie du dich nennst!

Sonst fürcht unsre Messer, bist du kein Gespenst!«


Ein Mönchlein, ein zechend entschlafnes, wird reg:

»Wer bist du? Der Satan? Dir weis ich den Weg!«

Er zeichnet ein Kreuz. »Nun entmumme dich nur!

Ich bin der gelehrte Pancrazi von Chur!«


Der Jüngling entlarvt ein von Eppich umlaubt,

Ein hohes, ein mildes, ein gnädiges Haupt:

»Zu Füßen dem Herrscher, vermessen Gesind!

Ich bin Dionysos, des Donnerers Kind!«


Er lächelt dem Mönch in das feiste Gesicht:

»Silenos, Silenos, verleugne mich nicht!

Mich hat Seine Gnaden, der Bischof, gebannt

Und ist doch mein treuster Bekenner im Land.


Weinfröhliche Räter, etrurisch Geschlecht,

Ihr habt schon am Reno1 gehörig gezecht,

Doch hüben am Rhein, in germanischer Mark

Bezecht ihr euch doppelt und dreimal so stark!«

1

Ein italienischer Fluß.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 68-69.
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