Der Musensaal

[92] Jüngst trug ein Traum auf dunkler Schwinge mich

Nach Rom, der ew'gen Stadt. Den Vatikan

Betrat ich. Ich betrat den Musensaal

Verwundert, denn er war ein andrer heut,

Als ich geschaut mit jungen Augen ihn,

Da Pio Nono höchster Priester war.

Verschwunden aus dem edeln Oktogon,

Dem kuppelhellen, war der Musaget,

Apollo, der die Zither zierlich schlug,

Voranzugehn dem Chor tanzmeisterlich.

Die Neune saßen oder standen nicht,

Umher verteilt, in schönen Stellungen –

In wilder Gruppe schritten eilig sie,

Wie Schnitterinnen, die auf blachem Feld

Ein flammendes Gewitter überrascht!

Voran die blutige Melpomene,

Die an den Söhnen rächt der Väter Schuld.

Sie trägt das Schwert und auch den Kranz von Wein.

Wer schreitet, schlicht gewandet, neben ihr?

Kalliope, die keusch und kindlich blickt,

Die den erblindeten Homer geführt,

Die tapfre Helden liebt und Schildgetos

Und Roßgestampf und dann abseits der Schlacht

Im jugendzarten Busen Lose wägt.

Weithallend redet dort ein mächtig Paar,

Terpsichore und Polyhymnia:

»Der Tag ist fern und er erfüllt sich doch:[92]

Die Völker schreiten einen Reigen einst,

Sich an den Händen haltend, freigesellt,

Vieltausendstimmig dröhnt der Chorgesang!«

– »Dann weicht das Leid! Nicht alles, aber doch

Das meiste Leid!« Euterpe flötet es,

Das liebliche Geschöpf, die Schmeichlerin!

– »Dann füllt«, Erato lacht's mit blühndem Mund,

Die schöne Schelmin, die das Liebeslied,

Das Zechlied für allein unsterblich hält,

–-»Dann füllt ein jeder seine Schale sich

Mit duft'gem Wein und schlürft und keiner darbt!«

– »Törinnen!« gellt ein scharfgeschnittner Mund,

»Verspotte sie, mein Aristophanes!...

Doch eure Kampfgesellin bin ich auch!

Ich morde lachend, was nicht sterben kann,

In trunkner Lust, wie die Bacchante jach

Ein Zicklein oder Reh in Stücke reißt.

Mordlust'ger bin ich noch und tragischer

Als du, mein Schwesterchen Melpomene,

Denn du erhellest unter Zähren dich,

Doch mein Gelächter, Tränen schluchzen drin!«

Thalia rief's und unterm Efeukranz

Verlarvte mit der Satyrmaske sie

Die wehmutvoll ergriffnen Züge sich

Und hob mit nerv'gem Arm das Tympanum.

Die letzte wandelt noch Urania,

Die Gläubige, mit dem gehobnen Blick.

Die andern nennen sie die Schwärmerin,

Doch trennt sie sich von den Geschwistern nicht.

Sie sieht den Sturm der Erdendinge ruhn

In friedevollen Händen immerdar...

Aufflattert das Gewand! Die Locken wehn!

Die Kuppel weicht! In leuchtend tiefem Blau

Entfesselt schwebt der Musenchor einher.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 92-93.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon