Miltons Rache

[218] Am Grab der Republik ist er gestanden,

Doch sah er nicht des Stuart Schiffe landen,

Ihn hüllt' in Dunkel eine güt'ge Macht:

Er ist erblindet! Herrlich füllt mit lichten

Gebilden und dämonischen Gesichten

Die Muse seines Auges Nacht...


Ein eifrig Menschenantlitz neigt sich neben

Der müden Ampel, feine Finger schweben,

Auf leichte Blätter schreibt des Dichters Kind

Mit eines Stiftes ungehörtem Gleiten

Die Wucht der Worte, die für alle Zeiten

In Marmelstein gehauen sind...


Er spricht: »Zur Stunde, da« – Hohnrufe gellen,

Das Haupt, das blinde, bleiche, zuckt in grellen,

Lodernden Fackelgluten, zürnt und lauscht...

Durch Londons Gassen wandern um die Horden

Der Kavaliere, Schlaf und Scham zu morden,

Von Wein und Übermut berauscht:
[218]

»Schaut auf! Das ist des Puritaners Erker!

Der Schreiber hält ein blühend Kind im Kerker!

Der Schuhu hütet einen duft'gen Kranz!

Wir schreiten schlank und jung, wir sind die Sünden

Und kommen ihr das Herzchen zu entzünden

Mit Saitenspiel und Reigentanz!


Vertreibt den Kauz vom Nest! Umarmt die Dirne!...«

Geklirr! Ein Stein!... Still blutet eine Stirne,

Den Vater schirmt das Mädchen mit dem Leib,

Die Bleiche drückt er auf den Schemel nieder,

Ein Richter, kehrt zu seinem Lied er wieder:

»Nimm deinen Stift, mein Kind, und schreib!


Zur Stunde, da des Lasterkönigs Knechte

Umwandern, die Entheiliger der Nächte...

Zur Stunde, da die Hölle frechen Schalls

Aufschreit, empor zu den erhabnen Türmen...

Zur Stunde, da die Riesenstadt durchstürmen

Die blut'gen Söhne Belials...«


So sang mit wunder Stirn der geisterblasse

Poet. Verschollen ist der Lärm der Gasse,

Doch ob Jahrhundert um Jahrhundert flieht,

Von einem bangen Mädchen aufgeschrieben,

Sind Miltons Rächerverse stehn geblieben,

Verwoben in sein ewig Lied.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 218-219.
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