Das Grab

[237] 1773.


Rings umher von Nacht umgeben,

Denk' ich deiner, o mein Grab!

Sonder Angst, und sonder Beben,

Schau' ich deine Kluft hinab.

Also hier, in dieser Stille,

Soll einst dies Gebein vergehn?

Hier soll dieses Geistes Hülle

Mit der Winde Hauch verwehn?


O erheb auf ihrem Flügel

Dich vom Staub empor, mein Geist!

Schwebe friedlich um den Hügel,

Den der Tugend Ruh umfleußt.[237]

Keiner Witwe Flüche schallen,

Ihrem Jammer ausgepreßt;

Keiner Waise Thränen fallen

Auf des Räubers Überrest.


Niedre Bubenränke kanntest

Du im Erdeleben nicht;

Tugend war dein Glück, du branntest

Nur für Vaterland und Pflicht.

Fehler, die sich dir entschlichen,

Sind durch Reuethränen schon,

Sind durch Jesus Blut erblichen,

Klagen nicht am Richterthron.


Aber eingeschleiert kommen

Keusche Mädchen an die Gruft;

Segenswünsche für den Frommen

Beben heilig durch die Luft.

Seelen, gut durch deine Lieder,

Bringen Blumenopfer dar,

Dankesthränen fallen nieder,

Und der Hügel wird Altar.


Horch! Bekränzte Greise wallen

Durch den düstern Eibengang;

Hohe Harfenlieder schallen,

Wie der Engel Lobgesang. –

Gott! ach Gott! die Schar der Brüder!

Ach, mein Herz! zu viel, mein Herz!

Auf! und schwing in Thränen wieder

Dich vom Staube himmelwärts!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 237-238.
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