Grablied

[236] 1773.


Schlaf, Schwester, sanft im Erdenschoß!

Du bist des müden Jammers los.

Wir sahen deinen Thränen zu,

Und wünschten dir des Grabes Ruh.[236]


Nun nahe sich der falsche Mann,

Und seh' die blassen Wangen an!

Und seh' dies Herz, das ohne Trug

Ihm noch im Todeskampfe schlug!


Und jeder Falsche müss' es schaun,

Und fühlen Seelenangst und Graun!

Und dieser Unschuld Lächeln sei

Erweckung ihm zur späten Reu'!


Du aber ruh in deiner Gruft,

Bis dich der letzte Morgen ruft,

Bis sanft, von Thränen unentstellt,

Sich wieder dein Gesicht erhellt!


Indes, o Schwester, pflanzen wir

Zween junge Rosensträuche dir;

Und eilen, dulden wir wie du,

Mit Thränen ihren Schatten zu.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 236-237.
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