Trinklied

[162] 1772.


O Brüder, schenkt mir ein, mir ein!

Daß ich von neuem euren Wein

In vollen Zügen trinke!

Und unter frohem Becherklang,

Ermattet von dem Rundgesang,

An euren Busen sinke!


Denn jetzo flattert um mich her

Der schwarze Genius nicht mehr,

Melancholie betitelt;

Die Zeiten, wißt ihr, ändern sich,

Wir Menschen mit. Drum seht ihr mich

Der Liebesqual entschüttelt.


Ich war in Chloens Reiz entbrannt,

Und putzte mich, und that galant,

Doch sie war Stahl und Eisen.

Ein Dutzend Körbe gab sie mir,

Und dennoch sang und klagt' ich ihr

In hundertfachen Weisen.


Ein Mädchen, das noch schöner ist,

Und feuriger, als Venus, küßt,

Hat nun mein Herz gewonnen.

In ihren weichen Armen fliehn

Die Sorgen allesamt dahin,

Wie Nebel an der Sonnen.


O, darum schenkt mir ein, mir ein!

Daß ich von neuem euren Wein

In vollen Zügen trinke!

Und unter frohem Becherklang,

Ermattet von dem Rundgesang,

An euren Busen sinke!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 162-163.
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