Wunsch

[138] 1771.


Könnt' ich, o blühende Natur!

All deinen Reiz besingen,

Und jedem Hain und jeder Flur

Ein dankbar Liedchen bringen!


Säng' ich die Morgensonne, die

Dem Auge sich verstecket,

Wenn schon der junge Schäfer sie

Mit seiner Flöte wecket.


Die Freude, die mit einemmal

Aus seinen Augen schimmert,

Sobald der erste Sonnenstrahl

Am Eichenwipfel flimmert.


Die Blumen, die mit Gelb und Blau

Die Flur umher bemalen,

Und durch den jungen Morgentau

In höhern Farben strahlen.


Das Wäldchen, das, der Unschuld gleich,

In weißen Flor sich hüllet,

Und den beschilften Silberteich

Mit Blüten überfüllet.


Der Pappel grüne Nacht, aus der

Ein Turteltäubchen girret.

Den Apfelbaum, um den ein Heer

Von Maienkäfern schwirret.[138]


Den Abend, der mit einemmal

Den halben Himmel rötet.

Den Hirten, der im letzten Strahl

Dem Tag zu Grabe flötet.


Den Stern der Liebeskönigin,

Der aus dem Westen blinket

Und ins Gebüsch die Schäferin

Zum trauten Schäfer winket.


Dianen, die das süße Glück

Der Liebenden betrachtet

Und mit hinweggewandtem Blick

Nach gleichen Freuden schmachtet.


Und tausend Scenen – könnt' ich sie,

Wie ich sie fühle, singen,

Und allen Reiz der Harmonie

Ins leichte Liedchen bringen:


Dann würde doch ein Jüngling mich

Dafür an Busen drücken,

Und manches Mädchen dankbarlich

Mir ihren Beifall nicken.


Doch nicht die blühende Natur,

Mit allem Reiz umgeben;

Ach Götter! Daphnen kann ich nur

Und ihren Reiz erheben.


Sie aber lächelt höhnisch, flieht,

Und will der Liebe Lehren,

Und will das minnigliche Lied

Von ihrem Reiz nicht hören.


O Götter! lehrt sie doch, wie ich,

Von Lieb' und Sehnsucht schmachten;

Wo nicht, so lehrt die Spröde mich,

Und ihren Stolz verachten!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 138-139.
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