Von der Mäßigung.

[140] Gleichsam als ob unsere Berührung etwas Ansteckendes hätte, verderben wir durch unser Behandeln solche Dinge, die an und für sich selbst schön und gut sind. Wir können die Tugend auf eine Art ergreifen, daß sie dadurch fehlerhaft wird; wenn wir solche mit zu großer Hitze und zu heftiger Gier umarmen. Diejenigen, welche sagen, in der Tugend könne niemals ein Übermaß stattfinden, spielen mit Worten, und erwägen nicht, daß da keine Tugend mehr ist, wo sich Übermaß befindet.


Insani sapiens nomen ferat, aequus iniqui,

Ultra quam satis est, virtutem si petat ipsam1


ist eine feine Bemerkung der Philosophie. Man kann sowohl die Tugend übermäßig lieben als sich ausschweifend bei einer gerechten Handlung benehmen. Auf diese Behutsamkeit zielt die Schrift, wenn sie sagt: »Seid nicht weiser, als sich gebührt, sondern seid weise mit Zucht!« Ich habe an einem Großen erlebt, daß er die Ehre seiner Religion dadurch verkleinerte, daß er, über alle Beispiele von Personen seines Standes hinaus, sich religiös bezeigte. Ich liebe die gemäßigten Naturen, welche die Mittelstraße halten. Wenn mich auch die Unmäßigkeit, selbst im Guten, nicht in Harnisch bringt, so setzt sie mich doch in Erstaunen und macht mich irre über den Namen, den ich ihr geben soll. Weder die Mutter des Pausanias, welche den ersten Wink gab und den ersten Stein zum Tode ihres Sohnes herbeibrachte, noch der Diktator Posthumius, welcher den seinigen hinrichten ließ, den die[141] Hitze der Jugend so glücklich hingerissen hatte, ein wenig aus seinem Glied hervorzutreten, scheinen mir so gerecht als auffallend. Und ich möchte eine so wilde und eine so teuer erkaufte Tugend weder anraten noch nachahmen. Der Schütze, welcher über die Scheibe hinschießt, fehlt ebensowohl als der, welcher zu kurz schießt. Und die Augen werden mir ebensowohl geblendet, wenn ich plötzlich in ein helles Licht sehe als in eine große Dunkelheit. Callicles sagt beim Plato, die äußerste Grenze der Philosophie sei nachteilig, und rät an, sich nicht tiefer hinein zu wagen, als sofern sie Nutzen gewährt; mäßig getrieben sei sie angenehm und gefällig; am Ende aber mache sie den Menschen wild und unbändig, zum Verächter der Religion und der bürgerlichen Gesetze; zum Feinde des geselligen Umgangs; zum Feinde der menschlichen Freuden; mache unfähig zur Verwaltung öffentlicher Geschäfte, oder dem Nebenmenschen beizustehn, oder sich selbst zu helfen: mache bloß geschickt, sich umsonst nasenstübern zu lassen. Er hat recht! Denn so bald sie übertrieben ist, legt sie unsre natürliche Freiheit in Sklavenketten und verleitet uns durch ihre lästige Spitzfindigkeit, den schönen, ebenen Weg zu verlassen, den die Natur uns anweist. Es ist nach allen Gesetzen erlaubt und recht, unsre Gattin zu lieben: gleichwohl hat die Theologie nötig erachtet, dieser Liebe einen Zaum anzulegen und sie in gewissen Schranken zu halten. Wo ich nicht irre, so las ich einst beim Sankt Thomas, in einer Stelle, wo er die Ehen im verbotenen Grade verdammt, unter andern angeführten Gründen auch diesen: Es stehe zu befahren, die Neigung zu einer solchen Gattin möchte unmäßig werden. Denn befände sich dabei die eheliche Liebe ganz und völlig, wie sich zieme, und man überlade sie noch dazu mit jener Liebe, die man der Blutsfreundin schuldig, so sei kein Zweifel, dies Übergewicht müsse einen solchen Ehemann über den Schlagbaum der Vernunft hinaustreiben.

Die Wissenschaften, welche die menschlichen Sitten anordnen, als z.B. die Theologie und Philosophie, befassen[142] sich mit allen Dingen. Keine Handlung, sie sei noch so verborgen oder geheim, kann sich ihren Urteilen und ihrer Gerichtsbarkeit entziehen. Wahre Lehrlinge sind es, die ihre Freiheit verfechten. Die Weiblein lassen nach Lust und Belieben den Buhlen ihre Heimlichkeiten erfahren; den Arzt aber? Ja, das verbietet die Schamhaftigkeit. Ich will also, in ihrem Namen, die Männer folgendes lehren, wenn es noch welche geben sollte, die die Sache zu hitzig betreiben, nämlich, das Vergnügen selbst, das sie in Erkenntnis ihrer Frauen genießen, ist verwerflich, wenn nicht Mäßigung dabei beobachtet wird; und können sie in dieser Sache ebensowohl als in einer unerlaubten durch Übermaß und Ausschweifung in Fehler verfallen. Diese unehrbaren Liebesbeweise, zu denen uns die erste Hitze in diesem Spiel treibt, werden nicht bloß nur unanständiger-, sondern sehr schädlicherweise gegen unsre Weiber verwendet. Laß sie doch wenigstens von andrer Hand lernen, unverschämt sein! Sie sind immerdar willig genug zu unseren Bedürfnissen. Ich habe mich dabei immer an die natürliche und einfache Anweisung gehalten.

Der Ehestand ist eine fromme heilige Verbindung. Das ist der Grund, warum das Vergnügen, welches man daraus zieht, ein bedächtliches, ernsthaftes und mit einiger Strenge vermischtes Vergnügen sein muß. Es muß eine gewissermaßen kluge und gewissenhafte Wollust sein. Und, weil ihr Hauptzweck Erhaltung und Fortpflanzung ist, so gibt es einige, die es in Zweifel ziehen, ob, wann die Beschaffung dieses Endzwecks nicht zu hoffen ist, als z.B., wenn schon die Frau über Jahre hinaus ist oder bereits ihre Bürde trägt, es erlaubt sei, dann noch diesen Beweis der Liebe zu begehren. Nach dem Plato wäre es ein Menschenmord. Gewisse Nationen (unter andern die mohammedanische) verabscheuen die Vereinigung mit einer Frau, während daß sie hohen Leibes ist. Verschiedene andre berühren keine Frau, solange ihr Rosenstock blüht. Zenobia erlaubte ihrem Ehgemahl nur eine Umarmung, hernach enthielt sie sich von ihm entfernt, die ganze Zeit, bis sie entbunden worden; da sie ihm dann erst wieder[143] gestattete, den Zweck der Fortpflanzung zu bezielen. Ein herrliches, großmütiges Beispiel eines Ehebündnisses!

Plato hat von einem Dichter, der auf diesen Handel sehr gierig und heißhungrig gewesen sein mag, folgende Erzählung entlehnt: Jupiter erkannte einst seine Juno mit solcher Glut, daß er nicht Geduld genug hatte, sie zu ihrem Liebeslager zu führen; sondern den harten Fußboden zum Thalamo erhob und über der Freude alle die großen und wichtigen Entschlüsse vergaß, die er mit den übrigen auf dem Olymp versammelten Göttern genommen hatte. Er rühmte dabei, er habe sie diesmal ebenso entzückend befunden, als da er ihr, ihren Eltern unbewußt, das erstemal den Gürtel gelöst.

Die Könige von Persien nahmen ihre Gemahlinnen mit in die Gesellschaft, bei ihren Hoffesten; wenn sie aber fühlten, daß der Wein anfing sie zu erhitzen und daß sie die Wollust gar nicht mehr im Zügel halten könnten, so schickten sie solche zurück nach ihren Wohnungen im Innern des Palastes, um sie an ihren unmäßigen Begierden keinen teilnehmen zu lassen, und ließen dann statt ihrer solche Weibsbilder herbeiführen, denen sie nicht schuldig waren, mit Achtung zu begegnen. Alle Ergötzungen und alle Befriedigungen herbergen nicht wohl zusammen bei aller Art Menschen. Epaminondas hatte einen liederlichen Burschen ins Gefängnis werfen lassen. Pelopidas bat ihn, solchen, ihm zu Gefallen, auf freien Fuß setzen zu lassen. Er schlug es ihm ab, verwilligte es aber einer seiner Dirnen, die ihn gleichfalls darum bat, und sagte dabei, es sei eine Gefälligkeit, die man wohl einer Freundin gewährte, sie sei aber unter der Würde eines Generals. Als Sophokles mit Perikles das Amt der Prätur verwaltete und eben zufälligerweise einen schönen Knaben vorbeigehen sah, sagte er zum Perikles: »Ei, sieh einmal den schönen Knaben!« – »Das wäre so etwas,« antwortete Perikles, »für einen, der nicht Prätor wäre; denn ein Prätor muß nicht nur reine Hände, sondern auch reine Augen haben.«

Der Kaiser Älius Verus antwortete seiner Gemahlin,[144] als sie sich darüber beschwerte, daß er andern Weibern nachginge, das täte er aus Gewissensdrang; denn der Ehestand sei eine Benennung von Ehre und Würde und hätte mit Tändeleien und sinnlichen Begierden nichts zu tun: und unsere Kirchengeschichte hat uns das Andenken jener Frau in allen Ehren auf bewahrt, die sich von ihrem Ehemann scheiden ließ, weil sie seine unverschämten und häufigen Betastungen weder begünstigen noch dulden wollte. Kurz, es gibt keine noch so erlaubte Wollust, deren unmäßiger Genuß uns nicht zum Vergehen angerechnet werden müßte.

Ganz aufrichtig gesprochen aber, ist der Mensch nicht ein armseliges Tier? Kaum steht es, in seinem natürlichen Zustand, in seiner Macht, ein einziges Vergnügen ganz und rein zu genießen! Und dabei gibt er sich noch Mühe, ihrer aus Überlegung zu entbehren! Als ob er noch nicht elend genug wäre, wenn er sein Elend nicht noch durch Kunst und Nachsinnen vermehrte?


Fortunae miseras auximus arte vias.2


Die menschliche Weisheit gibt sich die dumme Mühe, die Wollust nach Zahl und Süßigkeit zu vermindern, die unser Erbteil ist; eben wie sie sich mit aller Vorliebe beschäftigt, ihre ganze Kunst daran zu verschwenden, die Übel zuzuputzen, zu kämmen und zu schminken, um sie uns weniger scheußlich zu machen. Wäre ich Haupt einer Sekte gewesen, ich hätte einen natürlicheren Weg eingeschlagen, ich will sagen, einen wahreren, bequemeren und heiligeren, und hätte mich vielleicht mächtig genug gemacht, um ihn vorzuschreiben. Obgleich unsre geistlichen und leiblichen Ärzte, nach einem unter sich gemachten Komplotte, keinen Weg zur Genesung finden noch Mittel gegen die Krankheiten der Seele oder des Leibes als durch Qualen, Schmerzen und Leiden. Wachen, Fasten, härne Kleidung, Verbannung in Wüsten und Einsiedeleien, ewige Gefängnisse, Geißeln und andre Büßungen[145] sind des Endes eingeführt; aber unter solchen Umständen, daß es wahre Leiden sein und herbe Bitterkeit bewirken sollen. Wie einem Gallio, von dem man, als er auf die Insel Lesbos ins Elend verwiesen worden, in Rom Nachricht erhielt, daß er sich's dort ganz wohl sein ließe und daß, was man ihm als Strafe auferlegt hätte, zu seiner Bequemlichkeit gedeihe; weswegen man denn einen andern Entschluß faßte und ihm heimzukommen befohlen und bei seiner Frau in seinem Hause zu wohnen, mit dem Beifügen, sich da ruhig zu halten, um ja die Strafe so einzurichten, daß ihn solche schmerzte. Denn für denjenigen, dem das Fasten die Gesundheit stärkte und Heiterkeit gäbe, dem das Gift besser schmeckte und besser bekäme als Fleisch, ruf den wäre es keine heilsame Arznei; sowenig, als in der andern Arzneikunde solche Medizin Wirkung tut, die er mit Vergnügen und Wohlgefallen einnimmt. Bitterkeit und Widerwille sind Umstände, die zur Wirkung behilflich sind. Die Natur, welche den Rhabarber als ein gewöhnliches Nahrungsmittel annähme, würde ihre medizinische Kraft stören. Es muß etwas sein, das unsern Magen angreift, um ihn zu heilen; und hier hinkt die gemeine Regel, daß die Sachen nur durch entgegenstehende Dinge geheilt werden. Denn ein Übel heilt hier das andre.

Dieser Eindruck bezieht sich auch gewissermaßen auf jene sehr alte Meinung, da man dem Himmel und der Natur sich durch Mord und Totschlag angenehm zu machen dachte; welche Meinung in allen Religionen aufgenommen war. Noch zur Zeit unsrer Väter würgte Amurath, als er den Isthmus eroberte, der Seele seines Vaters sechzehnhundert junge Griechen, damit dies Blut als Reinigungsbad bei der Aussöhnung der Sünden des Verblichenen dienen möchte. Und in diesen neuen Ländern, die man zu unsrer Zeit entdeckt hat, die, in Vergleichung mit den unsrigen, noch rein, unschuldig und jungfräulich sind, ist der Gebrauch so ziemlich allgemein. Alle ihre Götzen schlürfen Menschenblut, und es gibt dort manche Beispiele von Grausamkeit. Man verbrennt die Menschenopfer[146] lebendig, und halb gebraten nimmt man sie vom Kohlenhaufen weg, um ihnen Herz und Eingeweide aus dem Leibe zu reißen. Andre, besonders Weiber, schindet man lebendig, und mit ihrer blutigen Haut bekleidet oder verlarvt man andre. Auch sieht man nicht weniger Beispiele von Standhaftigkeit und Entschlossenheit. Denn diese armen, zum Opfer erkiesten Menschen, Greise, Weiber, Kinder, gehen einige Tage vorher selbst, herum und betteln die Almosen zusammen, wovon die Kosten bei ihrer Opferung bestritten werden, und beim Schlachtaltar stellen sie sich ein, singend und tanzend mit den übrigen Anwesenden.

Als die Abgesandten des Königs von Mexiko dem Ferdinand Córtez die Größe ihres Herrn begreiflich machen wollten und ihm bereits erzählt hatten, er habe dreißig Fürsten unter sich, deren jeder hunderttausend Krieger auf die Beine bringen könnte, und daß er in der schönsten und festesten Stadt unterm Himmel seine Wohnung habe, so fügten sie noch hinzu, er habe jährlich fünfzigtausend Menschen den Göttern zu opfern. Man sagt wirklich, dieser König habe mit verschiedenen großen benachbarten Völkerschaften Krieg unterhalten, nicht bloß, um die Jugend des Landes zu üben, sondern vornehmlich deswegen, damit er jene Opfer mit Kriegsgefangenen beschicken könne. Anderwärts, in einem gewissen Marktflecken, opferte man, um Córtez zu bewillkommen, fünfzig Menschen auf einmal. Laß mich noch diese Erzählung anführen: Nachdem einige von diesen Völkern vom Córtez geschlagen worden, schickten sie Abgeordnete an ihn, um zu kundschaften und ihn um seine Freundschaft zu bitten. Diese Botschafter überbrachten dreierlei Gattungen von Geschenken auf folgende Weise: »Herr«, sagten sie, »hier sind fünf Sklaven! Bist du ein strenger Gott und nährest du dich von Menschenfleisch und Blut, verzehre sie und wir wollen dir mehr herbringen; bist du ein Gott von sanftmütigem Sinn, so sind hier Federn und Räucherwerk, zum Geschenk für dich; bist du ein Mensch, so nimm dies Geflügel und diese Früchte, die wir dir überbringen.«

Fußnoten

1 Horaz, Epist. I, 6, 15: Ja, selbst den Weisen heißt man toll, den frommen Schalk, der's mit der Tugend weiter treibt, als seine Pflicht erheischt.


2 Properz III, 7, 44: Ein Unbill aus des Schicksals Hand erhöhen wir durch Kunst zum Jammer.


Quelle:
Montaigne, Michel de: Essays. Leipzig 1967, S. 140-147.
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