Görlitzer Brief

[147] Oh, das war schön, Herzbruder, lieber Freund,

als wir die kalte, klare Weihenacht

ausfuhren übers eingeschneite Land!

Durchs Astgewirr der Pappelbäume brach

der stillen Felder meilenweites Weiß;

die Erde ward uns wieder einmal rund,

und unser Geist ein Vogel über ihr.

Die Pferde dampften, und mit ihrem Trab

im Takte scholl das traute Schellenzeug;

des Kutschers Riesenmantel flatterte

und holte seine Sensen-Geißel aus,

so war es Kronos selber, der uns fuhr.

So saßen wir nachdenklich Seit' an Seit',

mit seiner jungen Hoffnung jeder still,

und jeder still mit seiner jungen Not.

Da plötzlich, als der Blick sich grenzenlos

auf Äcker öffnete – ein weißer Blitz –

ein blendend Meteor! – und wieder Nacht.

(Mir hat einmal ein Weib aus meiner Hand

den Lebenslauf des Meteors gesagt.)

Die Kälte schnitt, und knirschend sang der Schnee.

Wir wandten um, und als die alte Stadt

nun wieder näher kam, da glänzte hier

und glänzte dort ein baum-erhelltes Haus:

Es war mir wie ein tiefes, fernes Lied

von Erdenkinder Hoffen und Geduld –:[148]

Ein bißchen Lieb' und Licht, – und schon ein Fest! –

Doch freilich, wie viel Häuser lagen schwarz! –

Nun schlief die Ebne wieder hinter uns

mit ihrem ungeheuren Firmament, –

noch seh ich, wie die Sterne funkelten!

Oh, das war schön, Herzbruder, lieber Freund!

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 3, Basel 1971–1973, S. 147-149.
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