Im Tann

[54] Gestern bin ich weit gestiegen,

abwärts, aufwärts, kreuz und quer;

und am Ende, gliederschwer,

blieb im Tannenforst ich liegen.

Weil' ich gern in heitrer Buchen

sonnengrünem Feierlichte,

lieber noch, wo Tann und Fichte

kerzenstarr den Himmel suchen.


Aufrecht wird mir selbst die Seele,

läuft mein Aug empor den Stamm:

Wie ein Kriegsvolk, straff und stramm,

stehn sie da, ohn Furcht und Fehle;

ernst, in selbstgewollter Buße,

nicht zur Rechten nicht zur Linken:

wer der Sonne Kuß will trinken,

hat im Dämmer keine Muße.


Denksam saß ich. Moose stach ich

aus des Waldgrunds braunem Tuch.

Und der frische Erdgeruch

tat mir wohl, und heiter sprach ich:

Wahrlich, ich vergleich euch Riesen

unerbittlichen Gedanken,

die sich ohne weichlich Wanken

Höhenluft der Wahrheit kiesen.
[55]

Philosophin Mutter Erde

hat euch klar und schlicht gedacht,

jeglichem zu Lehr und Acht,

wie man teil des Lichtes werde.

Stolz aus lauem Dämmer flüchten,

Rast und Abweg herb verachten,

nur das eine Ziel ertrachten –

also muß der Geist sich züchten.


Lang noch an den schlanken Fichten

sah ich auf mit ernstem Sinn.

Erde! Große Meisterin

bist du mir im Unterrichten!

Besser als Folianten lehren,

lehrst mich du, solang mein Leben.

Unerschöpflich ist dein Geben,

doch noch tiefer mein Verehren.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 54-56.
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