Kosmogonie

[41] Ewiges Firmament,

mit den feurigen Spielen

deiner Gestirne,

wie bist du entstanden?


Du blauer Sammet!

Welch fleißige Göttin

hat sich auf dir

mit goldnen und silbernen

Kreuzstichmustern verewigt?


Wie! oder wären

die Sterne Perlen,

tagesüber

in Wolkenmuscheln gebettet:

Aber des Nachts

tuen die Schalen sich auf,

und aus den schwarzen,

angelspottenden Tiefen empor

lachen und funkeln

die schimmernden Schätze

des Meers Unendlichkeit?
[42]

Oft auch ist mir,

ein mächtig gewölbter

kristallener Spiegel

sei dieser Himmel,

und was wir staunend

Gestirne nennen,

das seien Millionen

andächtiger Augen,

die strahlend

in seinem Dunkel sich spiegeln.


Oder wölbt

eines Kerkers bläuliche Finsternis

feindlich sich über uns?

Von ungezählten Gedankenpfeilen

durchbohrt,

die von empörter Sehne

der suchende Menschengeist

rings um sich gestreut:

Das Licht der Erkenntnis aber,

die Sonne der Freiheit,

quillt leuchtend

durch die zerschossenen Wände.
[43]

Nein, nein! ...

Mit spottenden Augen

blinzt die Unendlichkeit

auf den sterblichen Rätselrater ...

Und dennoch

rat ich das tiefe Geheimnis!

Denn bei Phanta

ist nichts unmöglich.

– – – – – – – – – – – – – – –


In der leeren, dröhnenden Halle des Alls

rauschte der Gott der Finsternis

mit schwarzen, schleppenden Fittichen

grollend dahin.

So flügelschlug der düstere Dämon

schon seit Äonen:

An seiner Seele fraß das Nichts.

Umsonst griffen die Pranken

seines wühlenden Schaffenswahnsinns

hinaus in die unsägliche Leere.


Vom eigenen Leibe mußte er nehmen,

wollte er schaffen –:

das hatte ihn jüngst quälend durchzuckt.

Und nun rang und rang er

gegen sich selber, der einsame Weltgeist,[44]

daß er sich selbst verstümmle.

Bis sein Wollen, ein Löwe,

in seiner Seele aufstand

und ihm die Hand ans Auge zwang,

daß sie es ausriß mit rasendem Ruck.

Ströme Blutes schossen nach.

Der brüllende Gott aber krampfte

in sinnloser Qual die Faust um das Auge,

daß es zwischen den Fingern

perlend herausquoll.

Den glänzenden Tropfenregen

rissen die fallenden Schleier des Bluts

in wirrem Wirbeltanze

hinab, hinaus in die eisigen Nächte

des unausgründlichen Raums.


Und die perlenbesäten blutigen Schleier

kamen in ewigem Kreislauf wieder,

schlangen erstickend sich

um des flüchtenden Gottes Haupt,

zerrten ihn mit sich,

warfen ihn aus,

ein regelloses, tobendes Chaos.

Tiefer noch zürnte der gramvolle Gott.

Nicht Schöpfer und Herrscher,

Spielball war er geworden,[45]

weil er, vom Schmerz bewältigt,

den heiligen Lebensstoff,

statt ihn zu formen, zerstört.


Äonen hindurch

trug er die Marter der glühenden Schleier,

litt er in seiner eigenen Hölle.

Dann aber stand zum anderen Male

sein Wollen, ein Löwe,

in seiner Seele auf.

Sieben Kreisläufe des Chaos

rang er und rang er noch,

und dann

gab er den Arm dem Wollen frei.

Und er nahm sich auch noch

das andere Auge

aus dem unsterblichen Gotteshaupt

und warf die blutüberströmte,

unversehrte Kugel

mitten hinein ins unendliche All.


Da stand sie, glühend,

in unermeßlicher Purpurründung,

und sammelte um sich

die tanzenden Blutnebel,

daß sie, ein einziger Riesenring[46]

von Flammenschleiern,

um den gemeinsamen Kern

sich wanden und kreisten.

Der blinde Gott aber saß

und lauschte dem Sausen der Glut.


Äonen kreiste der Ring:

Dann zerriß er.

Und um die glasigen Perlen

des zerkrampften Auges

ballten sich Bälle kochenden Bluts,

glühende, leuchtende Blutsonnen,

und andere Bälle,

die unter roten Dampfhüllen

langsam gerannen.

Durch die Unendlichkeit

schwangen sich zahllose Reigen

zahlloser Welten

in tönender Ordnung

um das geopferte, heile Auge.


Der blinde Gott aber

lauschte dem Klang der Sphären,

die seinen Preis jauchzten,

den Preis des Schaffenden,

und flog tastend mit seinen[47]

schwarzen, schleppenden Fittichen

durch seine Schöpfung,

ein Schrecken den Menschlein

auf allen Gestirnen,

der große Lucifer.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 41-48.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon