Gebet

[66] Dich ruf ich, Schmerz; mit aller deiner Macht

triff dieses Herz, daß es gemartert werde

und, das ich bin, dies Häuflein arme Erde,

emporhält aus der allgemeinen Nacht.


Dich ruf ich, Menschenfreund der besten Art;

mißtraue nicht, daß ich dich je verkennte;

du Schmerz, durch den uns wohl das Größte ward,

was Menschenwert von Gott und Tiere trennte.


Dich ruf ich; gib mir deinen bittern Krug;

und siehst du mich auch bang mich von ihm wenden; –

da mir das Glück allein nicht Kraft genug,

so hilf denn du mein Tagwerk mir vollenden.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 7, Basel 1971–1973, S. 66-67.
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