15.


Auszug eines Schreibens aus Siebenbürgen, über einen ohnweit Kronstadt in einem Walde gefundenen wilden Menschen.

[151] Hier haben Sie die Nachricht von dem Wilden, der vor einigen Jahren in einem Walde auf der siebenbürgisch-wallachischen Gränze gefunden, und nach Kronstadt gebracht wurde, woselbst er im Jahre 1784 noch lebte. Auf welche Weise dieser Arme in den Wald gerathen, ob er in der Jugend seinen Aeltern entlaufen, oder von einer unglücklichen Mutter im Walde selbst geboren wurde, darüber konnte ich nichts erfahren. Man muß daher das Factum, wie es ist, in der traurigen Gallerie der Gemälde dieser Art aufbewahren.

Der unglückliche Mensch war männlichen Geschlechts, und von mittelmäßiger Größe. Er hatte einen äußerst verwilderten Blick. Seine Augen[151] lagen tief in dem Kopf, und rollten in wilder Bewegung umher. Die Stirne war stark einwärts gebogen, und die Haare von aschgraulicher Farbe, in die Stirne heruntergewachsen, kurz und struppicht. Er hatte starke Augenbraunen, welche weit über die Nase hervorragten, und eine kleine plattgedrückte Nase. Der Hals schien aufgedunsen, und in der Gegend der Luftröhre kropfartig dick. Der Mund, den er beständig halb offen hielt, und durch welchen er schnaufend den Athem zog, stand etwas hervor. Die Zunge war beinah unbeweglich, und die Backen mehr eingefallen als voll, und wie das übrige Gesicht mit einer gelblich schmutzigen Haut überzogen. Man fühlte es beim ersten Anblick des Gesichts, aus welchem Wildheit und thierisches Wesen hervorleuchteten, daß es keinem vernünftigen Geschöpf angehöre; ein neuer Beweis für die Bemerkung, welche man auch in Tollhäusern bestätigt findet, daß jenes eigenthümliche Gepräge, welches die Vernunft der menschlichen Bildung aufgedrückt, bei allen denjenigen Personen mehr oder weniger vermißt werde, welchen der Vernunftgebrauch in höherm oder geringerem Grade versagt ist. Der übrige Körper des Wilden, besonders der Rücken und die Brust, waren stark behaart; die Muskeln von Arm und Beinen stärker und sichtbarer, als bei gewöhnlichen Menschen; die Hände callös, (welches vermuthlich von dem verschiedenen Gebrauch derselben herrührte) und die Haut durchgängig so schmutzig gelb und dick, wie am Gesicht.[152] An den Fingern hatte er sehr lange Nägel, und an den Ellenbogen und Knien dichte, knotenartige Verhärtungen. Die Fußzehen waren länger, als bei gewöhnlichen Menschen. Er gieng zwar aufrecht, aber etwas schwerfällig es schien, als ob er sich von dem einen Fuß auf den an dern würfe. Kopf und Brust trug er vorwärts, welches, wie ich vermuthe, daher zu erklären ist, weil er im Walde sich auf allen Vieren fortzubewegen gewohnt war. Er gieng baarfuß, und konnte schlechterdings keine Schuhe an den Füßen leiden. Die Sprache, selbst jede Spur eines artikulirten Tones, mangelte ihm ganz. Was er hören ließ, war ein unverständliches Gebrumme, welches sich dann äußerte, wenn ihn sein Begleiter vor sich her trieb; und dieß Gebrumme gieng in ein Geheul über, wenn er eines Waldes oder eines Baumes ansichtig wurde. Er schien dadurch seine Begierde nach seinem gewohnten Aufenthalt ausdrücken zu wollen; denn als er einmal auf meinem Zimmer war, wo man die Aussicht nach einem Berge hatte, der mit mehreren Baumgärten bepflanzt ist, fieng er bei dem Anblick der Bäume jämmelich an zu heulen. Von Vernunft waren wenige Spuren bei ihm anzutreffen. Er bezeigte für keine Sache Aufmerksamkeit. Man mochte ihm zeigen, was man wollte: so wurde man mit einem gleichgültige Blicke abgefertigt. Weder ein menschliches Wort, noch irgend eine Mine oder Geberde war ihm verständlich. Man konnte lachen, oder sich zornig stellen, er blieb unbewegt,[153] und verrieth auch nicht die mindeste Fertigkeit, wie dergleichen doch an mehreren wild gefundenen Menschen, besonders an dem Mädchen, von welchem Cordamine in seine Histoire d'une jeune sille sauvage Nachricht giebt, beobachtet wurden. Selbst die bei den wildesten Völkern, und schon an kleinen Kindern sichtbare Neigung nach Gegenständen, die in die Augen fallen, war an ihm nicht bemerkbar. Er strebte, als ich ihn das erste Mal sah, durchaus nach keinem Eigenthum. Wahrscheinlich war die völlige Ungewohnheit seines neuen Zustandes, und die Sehnsucht nach seinem vorigen Aufenthalt, die er bei dem Anblick eines Gartens oder eines Waldes so sichtbar zeigte, Schuld daran. Daher erkläre ich es auch, warum er anfänglich bei dem Anblick eines Weibes nicht die geringste Regung bezeigte. Als ich ihn aber nach dreien Jahren wieder sah, hatte seine Apathie in diesem Punkte aufgehört. Sobald er ein Frauenzimmer bemerkte, brach er in ein heftiges Freudengeschrei aus, und suchte seine rege gewordene Begierde auch durch Geberden auszudrücken. So wenig Neigung er aber, als ich ihn das erste Mal sah, für etwas hatte: so wenig Abneigung bemerkte man an ihm gegen etwas, solche Empfindungen ausgenommen, die er bereits gehabt hatte. Bei keiner Sache, welche andern Menschen Furcht einflößt, ahndete er eine Gefahr; nur, wenn er einen widrigen Eindruck erhalten hatte, bezeigte er Abneigung gegen die Sache, die ihm die unangenehme Empfindung[154] verursachte. Mit einer Stecknabel, die man ihm in die Haut stieß, konnte er zum Laufen gebracht werden; aber ein bloßer Degen, den man auf seine Brust, oder über seinen Kopf hielt, jagte ihm keine Furcht ein. Uebrigens bemerkte ich an ihm keine Menschenscheue, die man sonst doch an Personen seiner Art wahrnimmt. Bei dem Anblick mehrerer Menschen, blieb er eben so unempfindlich, als ob er allein wäre. Kein Ton eines musikalischen Instruments rührte ihn: nur beim Trommelschlag schien er furchtsam zu werden, und suchte sich zu entfernen. Leidenschaften äußerte er, außer der Sehnsucht nach seinem vorigen Aufenthalte, nicht, und diese wurde zuletzt durch die Gewohnheit gemindert. Doch zeigte er Zorn und Unwillen, wenn er Hunger und Durst fühlte, und würde in diesem Falle wohl selbst einen Menschen angegriffen haben; so wenig er sonst ihnen, oder irgend einem andern Thiere gefährlich war. Außer der ursprünglichen Menschengestalt, die übrigens in diesem Zustande einen demüthigenden Anblick gewährte, und außer dem aufrechten Gange, vermißte man an ihm alle jene charakteristischen Züge, wodurch sich der Mensch vor den übrigen Thieren auszeichnet; vielmehr war es eine erbarmungswürdige Scene, dieses unbehülfliche Geschöpf zu sehen, wie es vor seinem Treiber brummend und wild herumblickend einher wankte, und mit stumpfer Unempfindlichkeit gegen alles, was ihm vorkam, sich nach dem Aufenthalte der Raubthiere[155] sehnte. Um diesem heftigen Triebe Einhalt zu thun, wurde er anfänglich, sobald er vor die Stadtthore kam, und sich den Gärten, die für Wälder hielt, näherte, mit Stricken gebunden, und von mehreren Personen begleitet, weil er sich sonst mit Gewalt losgerissen haben würde, und seinem vorigen Aufenthalt im Walde zugelaufen wäre. Seine Speisen waren anfänglich nichts, als allerhand Baumblätter, Gras, Wurzeln und rohes Fleisch. Erst nach und nach gewöhnte er sich an gekochte Speisen, und nach der Aussage desjenigen, bei welchem er wohnte, soll ein ganzes halbes Jahr verflossen sein, bis er gekochte Speisen essen lernte. Dann milderte sich aber die thierische Wildheit merklich.

Das Alter dieses Wilden kann ich nicht mit Gewißheit angeben; dem äußeren Ansehn nach mochte er drei bis fünf und dreißig Jahre haben. Die Sprache erlernte er vermuthlich niemals. Als ich ihn nach drei Jahren wiedersah, fand ich ihn noch immer sprachlos; obgleich in vielen Stücken merklich verändert. Seine Mine verrieth noch immer etwas Thierisches, war aber ungleich sanfter geworden. Sein Blick hatte die vorige Wildheit verloren, sein Gang war fester und ordentlicher. Die Begierde nach Speise, welche er nun von allen Gattungen, besonders der Hülsenfrüchte, liebte, gab er durch unverständliche Töne zu verstehen, und bezeigte eine sichtbare Zufriedenheit, wenn man ihm etwas zu essen brachte; bediente sich auch wohl[156] des Löffels. Selbst an den Gebrauch der Schuhe und der übrigen Kleider hatte er sich gewöhnt, war aber unbekümmert, wenn sie auch noch so sehr zerrissen waren. Nach und nach fand er auch seine Wohnung ohne Führer; das einzige Geschäffte, wozu man ihn brauchen konnte, bestand darin, daß er einen Krug, den man ihm in die Hand gab, bei dem Brunnen mit Wasser anfüllte, und wieder nach Hause brachte. Dieß war der einzige Dienst, welchen er seinem Ernährer zu leisten vermochte. Uebrigens wußte er für seine Nahrung auch dadurch zu sorgen, daß er die Häuser fleißig besuchte, wo man ihm etwas zu essen gegeben hatte. – Der Trieb der Nachahmung zeigte sich auch in vielen Stücken; doch machte nichts einen bleibenden Eindruck auf ihn, und hatte er auch eine Sache mehrmals nachgeahmt: so vergaß er sie doch bald wieder, wenn man die Gewohnheit ausnimmt, welche mit seinen natürlichen Bedürfnissen, dem Essen, Trinken, Schlaf in einem nähern Zusammenhange standen. Durch dieses geleitet fand er des Abends sein Lager, und des Mittags die Häuser, wo er Nahrung zu erwarten hatte. Den Werth des Geldes lernte er nie kennen. Er nahm es zwar an, aber nur, um damit zu spielen. Ueberhaupt glich er in allen Stücken einem Kinde, dessen Fähigkeiten sich zu entwickeln beginnen; nur mit dem Unterschiede, daß er – der Sprache unfähig – keine Fortschritte in dieser Entwicklung machen konnte, sondern stets auf derselben niedern Stufe[157] stehen blieb. Auch darin hatte er mit einem Kinde Aehnlichkeit, daß er alles, was man ihm zeigte, begaffte, aber mit kalter Gedankenlosigkeit seinen Blick von demjenigen, was er begafft hatte, auf etwas Neues hinwandte. Wenn man ihm einen Spiegel vorhielt, suchte er das Bild, das er sah, hinter dem Spiegel; war aber ganz gleichgültig, wenn er es nicht fand. Der Ton musikalischer Instrumente schien ihn jetzt zwar etwas zu rühren; aber es war eine flüchtige Rührung ohne Eindruck. Als ich ihn in meinem Zimmer an das Klavier führte, hörte er die Töne mit einem scheinbaren Vergnügen an, traute sich aber nicht eine Taste anzurühren. Im Jahre 1784 verließ ich Kronstadt, und ich hatte seitdem keine Gelegenheit, weitere Nachricht von ihm einzuziehen.

Quelle:
[Nebel, Ernst Ludwig Wilhelm:] Medicinisches Vademecum für lustige Aerzte und lustige Kranken [...] Theil 1–4, Frankfurt, Leipzig 1795 (Bd. 1), 1796 (Bd. 2); Berlin, Leipzig 1797 (Bd. 3); Berlin, Leipzig 1798 (Bd. 4), S. 151-158.
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