§ 6

[156] Einen Vorteil hätte dieser Modus immerhin. Denn während der den Menschen als »Mechanismus« begreifen wollende Materjalist auf die ihm (und seinem Begreifen) unterschiedene Aussenwelt angewiesen ist, wäre der Spiritualist, der das Denken vom Denken aus untersuchen will, bereits mitten in seiner Materje drin. – Was wird nun dasjenige im Denken sein, welches mich bei meiner Untersuchung, wie den Leser bei dieser Schilderung, am intensivsten von der Omnipotenz dieses merkwürdigen, inneren Erlebnisses überzeugen wird? – Der Leser erwarte nicht, dass ich hier im Stile der älteren Psichologen ein vollständiges Inventar unseres Geistes nach Vorstellungen, Empfindungen, Gefühlen ihm vorführe, oder nach Art unserer modernen Hipnotisten die reizvollen Untersuchungen über das Verhalten unserer Psiche bei jeweilig empirisch geänderten Bedingungen hier schildere. Das Alles könte mich nicht fördern; noch mich von der ausschlaggebenden Wichtigkeit, von dem Primat, meines Denkens überzeugen. Wer die gesamte Welt vom Denken aus konstruiren will, muss es von seinem Denken aus tun. Und wer es von seinem Denken aus unternehmen will, muss es von einem persönlichen Erlebnis in seinem Denken aus tun. Und erst die Übereinstimmung im Denken des Lesers mit dem Denken des Verfassers (soweit die Sprache es zulässt) unterscheidet über die Tüchtigkeit eines Sistems. – Was ist nun dasjenige persönliche Erlebnis in uns, welches uns am entschiedensten, am direktesten, oft in erschreckender Weise, den Gedanken von der Genuität, von der Ursprünglichkeit des Denkens nahelegt? – Der Zwangs-Gedanke. Die Inspirazion. Die Halluzinazion. – Woher der plözlich, wie aus heiterem Himmel, mitten in unsere alltäglichen Vorstellungen hineinplazende Gedanke, der nichts ähnliches vor sich noch nach sich hat, wie ein erratischer Block mitten in unserem Denken liegt, nicht weichen noch wanken will, und uns unwillkürlich den Schritt hemmen heisst? Woher[156] der plözliche Einfall bei einem Luther, der, in Form einer religiösen Tese gekleidet, allen bis dahin bestandenen gemütischen Schwierigkeiten und Grübeleien ein Ende macht, ohne in der Richtung der bisher gehegten teologischen Zweifel zu liegen, ganz im Gegenteil von der entgegengesezten Richtung komt, wie eine Befreiung wirkt, und von der Stunde an aus einem ängstlichen, bekümmerten, elenden Menschen einen glaubensstarken, in sich gefesteten, mit unglaublicher Rüksichtslosigkeit vorgehenden Kämpfer und Anführer der Geister macht, dessen Einfluss Jahrhunderte überdauert? – Woher der fast wörtlich übereinstimmende Vorfall bei Descartes, der mit ten im Kriegslager bei Neuburg an der Donau, an einem von ihm festgehaltenen Tag, am 10. Nov. 1619, von einem Gedanken überrascht wird, dessen Eintritt ihm selbst unbegreiflich ist, und der, an die Spize seiner Dedukzionen gesezt, zum Grund- und Ekstein der modernen filosofischen Spekulazion wird? – Woher das ganz ähnliche Ereignis bei Jacob Böhme, der bei einem rein äusserlichen, ihm in der Erinnerung gebliebenen, Anlass, wie er erzählt, beim Betrachten eines glänzenden Zinn-Geschirrs, zuerst, und mit einem Schlag, auf jene Ideen geführt wird, die sein ferneres, teosofisches Sistem beherschen, und aus ihm, einem Schuster, einen der wirkungsvollsten Denker und tiefsinnigen Grübler machen? – Woher der noch rapidere Vorfall bei Swedenborg, der plözlich während des Mittagessens in London von einem inneren Vorwurf überfallen wird, genau genommen von einer Halluzinazion, die ihn von dem Moment an zur inneren Umkehr nötigt, und aus einem lebenslustigen, weltmännischen Gelehrten einen Spiritisten und Geisterseher werden lässt? – Woher endlich die ganz übereinstimmenden Aussagen von Künstlern, hervorragenden Denkern, überhaupt von innerlich stark beschäftigten Menschen, die glükliche Einfälle haben, Inspirazionen, ohne welche sie sich nicht zur Arbeit entschliessen können, welch' leztere von ihnen allen in ganz naiver Weise als fremde, ausser ihnen selbst gelegene, Einflüsse gedeutet werden, und die aus ihnen allen, von Mahomed bis auf Calvin, von Luther bis auf Helmholtz ausgesprochene[157] Deterministen und Anhänger der Prädestinazionslehre gemacht haben? –

Wir nennen nach logischer Abwandlung ein Denken »induktiv«, welches im Untersaz einen neuen Gedanken bringt, der sich nicht vom Obersaz ableiten lässt, und stellen es dem blos »deduktiven« Denken als eine höhere Form gegenüber. Wir nennen generell das induktive Denken »genial« und deuten damit auf eine fremde Quelle in unserem geistigen Leben hin, welche nur dem glüklichen Finder giesst, nicht durch Anstregung herbeigezogen werden kann, und unserem gewöhnlichen, in Assoziazionen verlaufenden Denken entgegengesezt wird« in das es »induzirt«, eingeführt wird. Also Erfahrung wie Logik kennen gleicherweise jenes geistige Erlebnis in uns, welches ein direkter Hohn auf alle kausale Verknüpfung ist, eine Form des Geschehens, die gleicherweise unser materjelles wie psichisches Leben beherrscht.

Für die moderne Psichologie auf materjalistischer Grundlage haben diese plözlichen Einbrüche in unser Geistesleben wenig Schwierigkeiten. Sie sind, sagt sie, Vorstellungen, wie jede anderen, nur fehlen die Zwischenglieder, es fehlt der Beginn der Reihe. Unser Denken, sagt sie, verläuft in Form der Assoziazionen, von Denkinhalten, die für sich eine kausale Reihenfolge bilden, wie die Gehirn-Reflexe, deren Abbilder sie sind; nur fallen sie nicht alle in unser Bewusstsein; und was nicht in's Bewusstsein fällt, ist eben unbewusst. – Ich muss sagen, wir stehen hier vor einer der kindischsten und puerilsten Leistungen in unserem zeitgenössischen Denken. Wer sagt uns, dass es »unbewusste Vorstellungen« gibt? Ungedachtes Gedachtes ist eine contradictio in adjecto; eine Verneinung bei gleichzeitiger Behauptung. Entweder ist die Vorstellung etwas Geistiges, dann ist sie bewusst. Denn nur in dem Charakter der Bewusstheit kennen wir Geistiges. Oder die Vorstellung ist nichts Geistiges – warum sie dann Vorstellung nennen, womit wir doch den Begriff von etwas Gedachtem verbinden? Warum sie dann nicht lieber Funkzion nennen? Aber hier stiesse die Psichologie auf den materjalistischen Aker, und[158] würde empfindlich zurükgestossen werden. Denn von einem Übertritt von Psichischem in den mechanischen Gehirn-Reflex wollen die konsequenten Materjalisten nichts wissen. Also auch hier dieselbe Zweideutigkeit und Unklarheit in unserem Denken, die wir schon oben gerügt haben. Auf der einen Seite soll die »unbewusste Vorstellung« etwas Geistiges an sich haben, denn sonst könnte sie ja in der psichischen Kausalreihe nicht figuriren, und den »Einfall«, den »Zwangsgedanken«, als bewusst herausgefallenes Glied aus der Assoziazions-Kette, nicht erklären. Auf der andern Seite aber soll die »unbewusste Vorstellung« wieder nichts Geistiges an sich haben, denn sonst fiele sie ja, als Geistiges, in unser Bewusstsein, wo sie eben nicht da ist, und wo ihr Fehlen erklärt werden soll. Also die Frage nach der Herkunft des assoziazionslosen Zwangs-Gedankens, des »Einfalls«, in unserem Denken ist durch den Hinweis auf »unbewusste Vorstellungen« nicht beantwortet, sondern mittelst eines dualistisch angelegten, das Kausal-Gesez umgehenden, Begriffs-Kunststüks unter den Tisch geworfen.2

Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978, S. 156-159.
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