§ 7

[159] Betrachten wir die Halluzinazion! – Es ist bekant, dass sie als solche ein durchaus in die Breite fisiologischer Gesundheit fallendes psichisches Ereignis ist. Wir haben also hier nicht nur eine psichiatrische Frage vor uns. Die Halluzinazion ist ein Einbruch in mein Denken, der nicht rein geistige Leistung bleibt, sondern – empirisch gesprochen – mit einer Projekzion in die Aussenwelt verknüpft[159] ist, also in den Bereich der Erscheinung fält. Ueber ihr fisiologisches Entstehen sind Alle, Psichiater wie Psichologen, soweit einig, dass sie dieselbe zentral entstehen lassen, in der Hirnrinde, resp. in der Vorstellung; dass selbe – als zentraler Vorgang – fisiologisch indentisch ist mit der durch Sinnesperzepzion, in Folge »äusseren« Reizes entstandenen Wahrnehmung, und dass sie von hier aus nach aussen projzirt wird. Also ein Baum, den ich halluzinire, entsteht als zentraler Prozess in meinem Hirn, resp. in meiner Vorstellung, und wird von hier aus in die Aussenwelt verlegt, wo ich ihn sehe, während ihn meine Nebenmenschen nicht sehen. Aber wie komt es, dass ein Prozess, der in der Regel von aussen nach innen verläuft – der in der Aussenwelt wirklich vorhandene Baum wirkt als Reiz auf mein Auge und pflanzt sich fort bis in mein Hirn, wo er als Baum gesehen wird – nun auf einmal den umgekehrten Weg einschlägt, und, wie die Halluzinazion von Innen nach Aussen geht? Nicht nur wäre dies höchst auffallend und widerspräche allen unseren Kentnissen über Nerven-Fisiologie. Sondern auch das Experiment in Hinsicht der Lokalisazion der Funkzionen der Gehirn-Rinde hat gezeigt, dass Reizung einer sensoriellen Stelle der Hirn-Rinde, z.B. des Sehfeldes, niemals perifer einen Seh-Akt oder eine Licht-Empfindung auslöst; während umgekehrt perifere Reizung, z.B. des Nerven-Stumpfes des opticus stets zentral eine optische Wahrnehmung wekt. Woher also der umgekehrte Weg bei der Halluzinazion? – Darauf werden uns die Psichologen vielleicht antworten, dass die Hinausverlegung des halluzinirten Baumes in die Aussenwelt, wo er wirklich gesehen wird, nur funkzionelle Bedeutung habe, nur ein für die Auffassung des Halluzinanten gültiges Ereignis sei, während der wahrhafte Vorgang einzig zentral verlaufe. Der Meinung sind wir auch. Aber wo stekt dann der Unterschied zwischen einem wirklichen und einem halluzinirten Baum, da der zentrale Prozess der Wahrnehmung ja für die Halluzinazion wie für die normale Sinnes-Empfindung der gleiche ist? Wie steht es überhaupt mit dieser Aussenwelt? Wie komt es, dass ich die Aussenwelt nicht als Innen-Welt empfinde,[160] nachdem die wirkliche Wahrnehmung der Aussen- Welt nur ein in meinem Innern, zentral-verlaufender Prozess ist? Wie komt es, dass ich die Aussenwelt, nach Meinung der Materjalisten, erst von Aussen nach Innen empfinde, und sie dann nochmals von Innen nach Aussen verlege, nachdem dieser leztere Weg dem Halluzinanten verschlossen ist und, wie wir gesehen haben, aus fisiologischen Gründen der Leitungsbahnen, nicht zugestanden werden darf? – Hier gibt es also von Zweien nur Eins: Entweder findet die Verlegung meiner zentralen Wahrnehmung in die Aussenwelt als Aussenwelt wirklich statt, dann muss sie auch für meine Halluzinazion (die der normalen sinlichen Wahrnehmung als zentraler Prozess gleich gesezt ist) gültig sein. Dann aber ist Halluzinazion mit Aussenwelt-Wahrnehmung identisch; und der für die normale Sinnes-Wahrnehmung, supponirte primäre Weg von der Aussenwelt in das Zentrum meines Innern ist überflüssig und auch unwahrscheinlich, da nicht angenommen werden kann, dass die Natur ein und den selben Weg einmal hin und dann wieder retur macht.

Oder: der Weg für die Verlegung des zentralen Wahrnehmungs-Inhaltes in die Aussenwelt ist für die Halluzinazion ungültig, dann ist er es auch für die normale Sinnes-Wahrnehmung, die ebenfalls in der Aussenwelt gesehen wird, und die, was den zentralen Prozess anlangt, mit der Halluzination gleich ist. Dann findet also keine Wahrnehmung in der Aussenwelt statt, sondern bloss in meinem Innern. Nun findet aber Wahrnehmung wirklich statt. Demnach bleibt nur die erste Alternative: dass normale Sinnes-Wahrnehmung wie Halluzinazion in gleicher Weise aus dem Innern in die Aussenwelt projzirt werden. Da aber dann der vorausgehende Weg des Eindringens der Aussenwelt in mein Inneres bei der normalen Sinnes-Wahrnehmung überflüssig wird – auch wenig wahrscheinlich ist, und auch sinnfällig nicht stattfindet; denn der Baum dringt doch nicht in meinen Kopfso ist die Welt Halluzinazion.[161]

Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978, S. 159-162.
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