§ 9

[163] Damit stehe ich also wieder am alten Flek. Da ich die »Halluzinazion«, den Einbruch in mein Denken, die Inspirazion, weder aus einem zweiten Bewusstseins-Bezirk erklären kann, noch viel weniger aus einer materjellen Substanz entstanden mir denken kann, so stehe ich vor der alten Frage: Wie komt die »Halluzination« – wie komt[163] die Welt, die ich als Halluzinazion, als kausallose Wahrnehmung erkant habe, in mein Denken? – Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, ist mir natürlich die eine Seite, die Welt-Seite, verschlossen; denn dort ist ja nur, wie wir gesehen haben, der Verbreitungs-Bezirk der Illusion, dort ist die Manifestazions-Fläche meiner Halluzinazion. Nach vorn also – um mich räumlich auszudrücken, und eine Richtung anzudeuten, die nur in der Erscheinungswelt Gültigkeit hat und in der Verlängerung meiner Augenachsen liegt – ist mir der Weg verschlossen; es bleibt mir nur – wiederum illusorisch gesprochen – der Weg rükwärts von meinem Denken, um meinem Kausalbedürfnis hinsichtlich der Herkunft meiner »Einfälle« Genüge zu leisten. Was kann nun dahinten liegen, welches für mich die Quelle so ausserordentlicher Ereignisse, mein ganzes Leben im Denken wie in der Erscheinungswelt bestimmender Tatsachen ist? Etwas Denkendes? Etwas Geistiges? Etwas Psichisches? – Unmöglich! Denn dann hätte ich ja den Assoziazionsfaden nach rükwärts gegeben, und könte durch das Bewusstsein vermittelst dessen mir einzig Geistiges mitgeteilt wird, die Herkunft nach Hinten verfolgen. Ich hätte dann keinen »Einfall«, sondern eine Denkreihe. Gerade aber die fehlt mir, und der abrupte, plözliche Einbruch in meine Psiche ist es, die mich so frappirt, und die ich ergründen will. Also irgend etwas Psichisches oder Bewusstes kann ich nicht hinter meinem Denken annehmen. Etwas Nicht-Psichisches, Unbewusstes, Materielles, noch viel weniger, denn dann fiele ich ja in den Fehler der Hipnotisten, die aus einem unbewussten Reich Bewusstsein ziehen wollen. Was ist aber das, was weder etwas Psichisches, Gedachtes, noch etwas Körperliches, Materjelles ist? –

Wir benüzen zu unserer gegenseitigen Verständigung durch die Sprache immer Abbilder aus der Erscheinungswelt. Es ist dies eine unumgängliche Form unseres Denkens, eine – um mich in meinem Sistem auszudrüken – Art meines Halluzinirens, meines Manifestirens; und auch da, wo ich nicht mehr in meinem Denken weiter kann,[164] oder, wo mein Denken sich nicht mehr adäquat in der Erscheinungswelt manifestiren kann, gebrauche ich, als Ausdruk des Widerstandes, des Nicht-Weiter-Könnens, einen Laut, einen Ausdruk, der immer noch dieser Erscheinungswelt entnommen ist; – die einzige Möglichkeit, mich mit meinen der Erscheinungswelt angehörenden Nebenmenschen zu verständigen, und ihnen Kunde von meinem Denken zukommen zu lassen.

Hier also, wo ich effektiv nicht mehr weiter kann, habe ich ein Recht und die Pflicht ein Bild aus der Erscheinungswelt zu gebrauchen: Wenn ich, in der Absicht einen von mir eingeschlagenen Weg auf der Strasse zu verfolgen, plözlich vor einem Zaune stehe, der mich am Weiter-Gehen hindert, so kann ich immer noch, obwohl ich damit die Strasse, und damit meine Absicht, verlasse, auf den Zaun steigen, um drüben Aussicht zu halten, eventuell über den Zaun hinübersteigen. Hinübersteigen heisst lateinisch transcendere. Und hievon abgeleitet heisst transzendental in der Filosofie eine Untersuchung, in der ich das Gebiet der Erfahrung, sei es der Erfahrung im Denken sei es in der Erscheinungswelt, verlassen habe, oder zu verlassen im Begriffe bin. In eben diesem Falle befinden wir uns selbst. Auf die Frage also: was kann hinter meinem Denken für eine Quelle liegen, die nach den angestelten Untersuchungen weder bewusste noch materjelle Qualität an sich haben darf, aber die nicht auf assoziativem Wege sondern durch Einbruch in mein Denken entstandenen, und hier angetroffenen Bewusstseins-Inhalte erklären soll – eine Untersuchung die mein noch innerhalb meines Denkens wirkendes Kausalitäts-Bedürfnis gebieterisch fordert? – kann ich die Antwort geben: Es ist ein transzendentaler Grund. Es ist eine transzendentale Ursache. Ein Prinzip. Irgend Etwas. Ein Ding, das ich benamen kann, wie ich will, wenn ich nur nicht vergesse, dass die Sache jenseits meiner Erfahrung liegt, der Name aus der Erscheinungswelt stamt.[165]

Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978, S. 163-166.
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