§ 8

[162] Wenn die Welt für mein Denken eine Halluzinazion ist, was ist sie dann für mich, den Erfahrungsmenschen, für meine Sinne, ohne die ich nun einmal nicht Haus halten kann? – Eine Illusion. – Wahrhaftig kein neuer Gedanke. Alle idealistischen Sisteme von Brahma bis Kant waren dieser Ansicht. – Sind wir aber damit fertig? – Keineswegs! Es entsteht die Frage: wie komt die Welt als Illusion in meinen Kopf? Wie komme ich dazu, in meinem Denken die Welt als Wahrnehmung zu halluziniren? Der rastlose Arbeiter in meinem Geist frägt: Warum? – Woher? – Die moderne Psichologie hat zur Erklärung – nicht der Welt als Halluzinazion, dies ist eine metafisische Untersuchung – aber der grob-sinlichen Halluzinazion, der Halluzinazion als Erscheinung, der Zwangsvorstellung, der Sugestion – die Teorie des »Unterbewusstseins« aufgestelt, der »subliminal consciousness«, wie die Engländer sagen, oder »sous-conscient« der Franzosen. Es könte scheinen, als ob dieses Unterbewustsein in Stande wäre, alle die plözlichen Einbrüche in mein Denken zu erklären. Und indem ich den Einwand gelten lasse, argumentire ich wieder als ein dem hinfälligen Gebiete der Erfahrung Angehöriger. Aber es wird sich zeigen, dass wir an das »Unterbewusstsein« genau die gleichen Fragen stellen müssen, wie an das »Unbewusstsein«. Wie soll ein Einfall aus dem »Unterbewusstsein« in mein »Oberbewusstsein« gelangen? Wollen wir keinen kausallosen Sprung wagen, so müssen beide Zentren assoziativ verbunden sein. Soll nun auf dieser Bahn eine »bewusste Vorstellung« hinauf gleiten, die oben bewusst und unten bewusst ist, wie komme ich in meinem Oberdenken dazu, sie für einen »Einfall« zu halten, für einen Einbruch in mein Denken, für etwas aus dem »Unbewussten« Geborenes, für eine »Halluzinazion«, da ja gerade ihr assoziazionsloser, nicht vorher mit Bewusstsein begabter, Charakter, sie mir als einen »Einfall« erscheinen lässt? Und die Sache wird nicht dadurch besser, das ich sage: die zwei Bewusstsein-Bezirke verhalten sich wie zwei Iche, wie zwei[162] Persönlichkeiten. Und wären es zwei komplet ausgebildete Menschen nur mit Haut und Knochen überzogen, so sind sie entweder mit ihrer Organisazion getrent, dann ist eine Verbindung nicht möglich, und der Streit vom Doppelbewustsein ist aus; oder sie sind verbunden, es laufen Assoziazionen hin und her, dann muss die mit Bewusstsein anlangende Funkzion als mit Bewusstsein begabte aufgenommen werden, und die Empfindung des »Einfall«, als kausallosen Einbruchs in mein Denken ist nicht möglich. – Schläft aber die »Vorstellung«, die Funkzion, in dem unteren Bezirk unbewusst (ist also ein rein materjeller Reflex), wie soll sie dann – oben oder sonst wo in der Welt – bewusst werden, nachdem dieser Übergang von Körperlichem in Bewusstes seit Descartes – und Du Bois Reymond hat es den heutigen Naturwissenschaftlern mit seinem »Ignoramus!« nochmals ausdrüklich eingeschärft – eine für uns unausdenkbare Sache ist?! – Hier ist also keine Rettung. Und alle die reizvollen Untersuchungen der Hipnotisten und Psichologen über die Doppel- oder wievielfältige Anlage unserer Psiche, wie im »unbewussten Zählen«, im »unbewussten Schreiben«, im »unbewussten Aufmerken« u. dergl., mögen, als in die Erscheinung fallend, für mein Erfahrungsleben als praktische Unterscheidungen brauchbar sein, ebenso wie ich die Aussenwelt von meiner Wahrnehmung der Aussenwelt unterscheide, loquendi gratia: das Grün des Baumes von dem Baum-Grün, was ich empfinde – für mein Denken, für meine metafisische Untersuchung, sind sie ungültig, denn ich kann sie als Denkender nicht begreifen. Sie können vor meinem Denken nicht Stand halten.

Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978, S. 162-163.
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