Eines Morgens

[242] Ans Fenster rückt' ich meinen Tisch

Und wollte weise Dinge schreiben,

Doch, eh' ichs dachte, sah ich frisch

Mein Blatt im Morgenwinde treiben.


Was liegt an einem Blatt Papier?

Leicht ist's ein zweites zu bereiten!

Nun aber ließ die Sonne mir

Streiflichter blendend drüber gleiten.


Wie flogen sie so lustig hell

Die Pfeile von dem gold'nen Bogen!

Gleich einem Schilde ließ ich schnell

Den grünen Vorhang niederwogen.
[243]

Jetzt, meint' ich, jetzt wird Ruhe sein!

Des Fleißes ernste Zeit beginne!

So dacht' ich, still vergnügt, allein

Bald ward ich meines Irrthums inne.


Denn schmeichelnd und verlockend drang

Durch Blättergrün und grünen Schleier

Der Vögel Lied wie Festgesang,

Wie eine freud'ge Liebesfeier.


Was half es mir, daß ich mein Ohr

Vom Lauschen suchte zu entwöhnen?

Im Geiste hörte ich den Chor

Der süßen Stimmen doch ertönen.


Vergeblich sorgt' ich, daß sich nicht

Der Sonne Schimmer zu mir stehle;

Das ich von mir gebannt, das Licht,

Ich schaut' es doch in meiner Seele.


Da warf ich meine Feder hin!

Nicht länger konnt' ich widerstreben,

Gefangen war mir Herz und Sinn –

Ich mußte mich dem Lenz ergeben.
[244]

Aus meinem Hause trieb mich's fort

Auf waldgekrönte Vergeshöhen,

Wo, wie ein mildes Segenswort,

Die ahnungsvollen Lüfte wehen.


Den heil'gen Stimmen horchend, saß

Ich dort bis spät zum Abendlichte,

Und meine trunk'ne Seele las

In Gottes ewigem Gedichte!

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 242-245.
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