Stille Gewalten

[230] Es giebt zwei selige Gefühle,

Die unser Herz erst dann erfaßt,

Wenn in des Lebensmittags Schwüle

Des Morgens duft'ger Reiz verblaßt.

Dann kommen jene Engel beide,

Die Gott zu unserm Trost bestellt:

An der Natur die heil'ge Freude,

Die Liebe zu der Kinderwelt.


So lang auf sturmdurchfurchter Welle

Der Leidenschaft die Seele schwankt,

Der Erde Lust, die Qual der Hölle

Um unser Inn'res wild sich zankt,[231]

In brennenden Verlangens Grimme

Die Jugend ihre Schlachten ficht,

So lang dringt ihre sanfte Stimme

Durch des Orkanes Toben nicht.


Erst, wenn der Wünsche wilde Horden

Entmuthigt flieh'n, besiegt und bleich,

Erst, wenn es still in uns geworden,

Beginnet jener Engel Reich:

Wie Christus einst den Armen, dienen

Sie mild des Glücks verstoss'nem Sohn,

Und bau'n auf rauchenden Ruinen

Ihm einen neuen Freudenthron.


Tief selige Mysterien künden

Im Rauschen sie des Abendwinds,

Des Trostes lichten Strahl entzünden

Sie in dem großen Aug' des Kinds,

Das Herz, das sich in banger Scheue

Verschloß, von Bitterkeit geschwellt,

Sie knüpfen liebend es aufs neue

An Gott und seine schöne Welt.
[232]

Und wer sich ihnen hingegeben,

Wer sich zu ihren Treuen schwur,

Der lebt ein tausendfaches Leben

Im Keimen aller Creatur!

Der Winter, der mit starren Banden

Den schwerbedrängten Sinn umeis't,

Er hat ihn siegreich überstanden

Und Frühlingsdüfte trinkt sein Geist!

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 230-233.
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