Das Gift

[138] In China fand ein Alchymist

Statt Golds ein Gift, von allen Giften

Das schrecklichste: kein Nektar fließt

So glatt hinab. In zwanzig Schriften

Verkündigt er den neuen Fund;

Die Nachricht gieng von Mund zu Mund

Und wirkte schnell. Die Absolone

Verkürzten sich den Weg zum Throne

Durch diesen wunderbaren Saft:

Der philosophische Minister

Ward insgeheim vom Hohenpriester

Durch ihn vom Ruder weggerafft:

Durch ihn vertauschte manche Metze

Den Gatten gegen den Galan,

Und mancher Barnwell griff die Schätze

Des kargen Oheims früher an.

Allein so hör ich manchen fragen,

Stellt denn die hohe Policey

In China jedem Rekel frey,

Das ärgste Bubenstück zu wagen?

Und warum durfte der Adept

So keck sein höllisches Recept[139]

Vor aller Welt zu Markte tragen?

Hierüber wäre viel zu sagen;

Genug; es war im Geist der Zeit,

Daß kraft der edeln Preßfreyheit

Ein jeder alles schrieb und druckte,

Wornach die rechte Faust ihn juckte.

So schlich der Unfug weit und breit

Gleich einer Pest in alle Häuser:

Ein jeder murrte; nur dem Kaiser

Verbargen seine Schmeichler ihn.

Doch endlich fand ein Mandarin,

Ein Menschenfreund, der in der Jugend

Der Quellen Kraft, der Kräuter Tugend

Zu forschen um die Welt geschifft,

Durch seine Kunst ein Gegengift:

Er macht es kund: er reicht den Kranken

Das Mittel unentgeldlich dar.

Es nützte wenig; viele tranken

Es ungern, weil es bitter war:

Die meisten lachten beym Gedanken

Von Hinterlist und von Gefahr:

Die Siechen aus den fernen Kreisen

Erhielten die Arzney des Weisen

Oft gar nicht, öfters auch zu spät.

So wuchs das Uebel alle Tage[140]

Und endlich drang des Volkes Klage

Bis vor den Thron der Majestät.

Der Kaiser ruft den Unheilstifter

Zur Rechenschaft vors Blutgericht.

Monarch, erwiedert der Vergifter

Mit unerschrocknem Angesicht,

Ich kenne mein Verbrechen nicht;

Ist nicht die Vollmacht, laut zu denken,

Das Vorrecht der Philosophie?

Und dieses, Herr, kannst du nicht kränken,

Nein, denn du selbst verehrest sie.

Ich habe zwar ein Gift erfunden,

Allein die göttliche Chymie,

Die Wunden schlägt, heilt auch die Wunden,

Und eigentlich ist mir die Welt

Selbst für das Elixir verbunden,

Das meinem Saft die Waage hält.

Laß sehn, was deine Gründe taugen,

Rief Zoang und in seinen Augen

Las man des Zornes Flammenschrift:

Man gieß, um den Versuch zu machen,

Zuerst sein Gift ihm in den Rachen,

Und ist er todt, das Gegengift.

Vortreflich! Noch unendlich weiser

War das Gesetz, wodurch der Kaiser[141]

Der Preßwuth sichre Schranken gab;

Doch ohne die Vernunft zu drücken.

O hätt ich es, ich schrieb es ab

Und ließ es in die Zeitung rücken.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 138-142.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln und Erzählungen
Politische Fabeln und Erzählungen in Versen
Fabeln Und Poetische Erzählungen, Volume 2 (German Edition)
Fabeln Und Poetische Erzählungen, Volume 1 (German Edition)

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon