Christnacht

[120] 1819.


Der Engel der Verkündigung


Seraphim'sche Heere,

Schwingt das Goldgefieder

Gott dem Herrn zur Ehre,

Schwebt vom Himmelsthrone

Durchs Gewölk hernieder,

Süße Wiegenlieder

Singt dem Menschensohne!


Ein Hirte


Was seh ich? Umgaukelt mich Schwindel und Traum?

Ein leuchtender Saum

Durchwebt den azurenen, ewigen Raum,

Es schreitet die Sterne des Himmels entlang,

Mit leisem Gesang,

Der seligen Scharen musikischer Gang.


Chor der Hirten


Die Engel schweben singend

Und spielend durch die Lüfte,

Und spenden süße Düfte,

Die Liljenstäbe schwingend.


Chor der Seraphim


Wohlauf, ihr Hirtenknaben,

Es gilt dem Herrn zu dienen,[120]

Es ist ein Stern erschienen,

Ob aller Welt erhaben.


Chor der Hirten


Wie aus des Himmels Toren

Sie tief herab sich neigen!


Chor der Seraphim


Laßt Eigentriebe schweigen,

Die Liebe ward geboren!


Der Engel der Verkündigung


Fromme Glut entfache

Jedes Herz gelind,

Eilt nach jenem Dache,

Betet an das Kind!


Jener heißerflehte

Hort der Menschen lebt,

Der euch im Gebete

Lange vorgeschwebt.


Traun! Die Macht des Bösen

Sinkt nun fort und fort,

Jener wird erlösen

Durch das Eine Wort.


Chor der Hirten


Preis dem Geborenen

Bringen wir dar,

Preis der erkorenen

Gläubigen Schar.


Engel mit Liljen

Stehn im Azur,

Fromme Vigilien

Singt die Natur:
[121]

Der den kristallenen

Himmel vergaß,

Bringt zu Gefallenen

Ewiges Maß!


Der Engel der Verkündigung


Schon les ich in den Weiten

Des künft'gen Tages bang,

Ich höre Völker schreiten,

Sie atmen Untergang.


Es naht der müden Erde

Ein frischer Morgen sich,

Auf dieses Kindes »Werde«

Erblüht sie jugendlich.


Chor der Seraphim


Vergeßt der Schmerzen jeden,

Vergeßt den tiefen Fall,

Und lebt mit uns im Eden,

Und lebt mit uns im All!


Quelle:
August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, S. 120-122.
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