Traumland

Auf Pfaden, dunkel, voller Grausen,

Wo nur böse Engel hausen,

Wo ein Dämon, Nacht genannt,

Auf schwarzem Thron die Flügel spannt,

Aus letztem düsterm Thule fand

Ich jüngst erst her in dieses Land –

Aus Zauberreich, so wild und weit,

Fern von Raum, fern von Zeit.


Ewig bodenlose Schlünde,

Klüfte, Schlüfte ohne Gründe,

Unbegrenzte Wassermassen,

Die sich nie in Ufer fassen,

Wälder, die kein Ende nehmen,

Die – titanenhafte Schemen –

Tropfend stehn in Nebeltau,

Endlos wuchtend, endlos grau!

Berge, endlos niederfallend,

Meere, in kein Ufer wallend,

Meere, die urewig fluten,

Himmel, die urewig gluten,

Weiher, die unendlich breiten

Stummer Wasser Einsamkeiten,

Die in Tod und Stille liegen

Und den Schnee der Lilie wiegen.


Bei den Weihern, die da breiten

Stummer Wasser Einsamkeiten,

Die in Tod und Trauer liegen

Und den Schnee der Lilie wiegen;[113]

Bei den Bergen, bei den Flüssen,

Die so ruhlos murmeln müssen;

Bei den Wäldern, bei den Sümpfen,

Wo bei schwarzverfaulten Stümpfen

Molch und Kröte lauernd schleichen;

Bei den Pfuhlen und den Teichen,

Wo gefräßige Dämonen

Gierig bei den Leichen wohnen;

Bei den trüben Sündenquellen,

Die in giftigen Dünsten schwellen –

Trifft der Wandrer voller Bangen

Alles, was schon lang vergangen:

Totenhemden, die sich blähen,

Schemen, die aus Schatten spähen,

Freunde, lang schon aus dem Leben,

Erd – und Himmel übergeben.


Für das Herz voll tausend Wehen

Ist es hier ein friedvoll Gehen –

Für den Geist, den Schatten bannt,

Ist's ein paradiesisch Land!

Doch wer wandert durch dies Grauen,

Wage niemals aufzuschauen,

Nie den schwachen Blick zu heben

In das Weben und das Beben,

Senke das bewimpert Lid,

Daß es kein Geheimnis sieht.

So des Königs Machtbefehle.

Und so darf die trübe Seele

Hier nur im Vorübergehen

Durch getrübte Gläser sehen.
[114]

Auf Pfaden, dunkel, voller Grausen,

Wo nur böse Engel hausen,

Wo ein Dämon, Nacht genannt,

Auf schwarzem Thron die Flügel spannt –

Aus jenem letzten Thule fand

Ich jüngst erst heim in dieses Land.

Quelle:
Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 1: Gedichte, Herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922], S. 17-18,113-115.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Rabe. 7 Geschichten und 3 Gedichte um Liebe und Tod.
Gedichte / Poems. Vollständige zweisprachige Ausgabe.
Der Rabe und andere Gedichte
Das Werk.: Gedichte, Essays, Erzählungen und der Roman

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Rameaus Neffe

Rameaus Neffe

In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon