Geistliches Ermunterungslied

[334] Ps. 121, 1-2.


Auf, erheb' dich, meine Seel'

Aus der tiefen Schwermuths-Höhl'

Hin zu jenen milden Höhen,

Wo dir so viel Jahre her

So viel Liebe, Gut's und Ehr'

Unverdienet ist geschehen,

Und woher noch täglich fließt,

Was dein Herz und Mund genießt.


Achte nicht, ob dir hierbei

Höll' und Welt entgegen sei,

Lass' sie schmähen, wüthen, toben,

Dies hast du mit Gott gemein;

Hüll' dich fröhlich in dich ein.

Deine Hülfe kommt von oben,

Von den Bergen, von dem Thron

Dessen, der dein grosser Lohn.


Ja, da wohnt für dich nur Rath,

Wo der seinen Wohnsitz hat,

Der die Himmelskreis' erfüllet

Und der Erden Grund bestellt.

Liebt dich gleich die ganze Welt,

Wird dein Wunsch doch nicht gestillet,

Und ist dir dein Freund allein,

Kannst du unbekümmert sein.
[334]

Dies macht, o sein Conterfeit,

Daß sein Bild der Ewigkeit

Deinem Wesen eingepräget.

Göttlich bist du so von Blut,

Göttlich muß auch sein das Gut

Woraus sich dein Geist verpfleget.

Was der Erden zugehört,

Ist nicht Furcht noch Liebe werth.


Ach mein Gott, dies weiß mein Herz,

Und doch kehrt es unterwärts!

Bin ich noch so frisch zuweilen

Und erhebe mich zu dir,

Will mein Fleisch doch nicht mit mir;

Dieser Zwist von beiden Theilen,

Drin ich sonder Ende steh'

Thut mir mehr als schmerzlich weh.


Meine Kraft denn ist es nicht

Daß ich mich zu dir aufricht,

Nein, nur du kannst diese geben.

Mach' mich deines Geistes voll,

Wenn der zieht, so folg' ich wol,

Wenn der hebt, kann ich mich heben,

Wenn der mir sein Bild hält für,

Seh' ich dich schon kenntlich hier.


Oder kann ich so auch nicht

Recht erfüllen meine Pflicht,

Herr, so zieh' mir mein Gebeine,

Dies mein schweres Reiskleid ab,

Lass' das säubern durch das Grab,

Bis es rein vor dir erscheine;

Nur sein Odem, deine Zier,

Gehe fort, mein Gott, zu dir.


Hier will ich in deinem Licht

Beides, Mund und Angesicht,

Herr, zu deinem Thron erheben[335]

Und für alle deine Güt'

Dir mit himmlischem Gemüth

Mein erfreutes Danklied geben.

Liebster Gott, fällt dies mir ein,

Glaub' ich schon bei dir zu sein!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 334-336.
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