Sehnliches Verlangen nach Christo

[322] Off. Joh. 22, 17-21.


Ich bin voll heiliger Begier,

Dich, Jesu, zu umfangen,

Und fühle mehr als gnug in mir,

Dies jetzt gleich zu erlangen.

Gedenke, wie mir denn zu Muth',

Die Schwachheit drückt zwar noch das Blut,

Die dir ergebne Seele

Steht frei ganz ihrer Höhle.


Ach komm', mein Heiland, komme bald,

Sie gänzlich zu erlösen,

Und führe mich, mein Aufenthalt,

Zu dir aus allem Bösen,

Aus allem Bösen dieser Welt

In dein erwünschtes Himmelszelt,

Aus meinen schweren Leiden

Zu deinen süßen Freuden.


Ein Schatten ist es nur von mir,

Den man noch spürt zu leben,

Denn ich mich, mein Erlöser, dir

Schon längst hab' übergeben.

In deinen Wunden ist mir wol,

Hier saug' ich deines Bluts mich voll,

Hierinnen will ich sterben

Um deinen Geist zu erben.


Ach komm', mein Heiland, komme bald,

Erfülle mein Verlangen![322]

Nun wol, du kommst, mein Aufenthalt,

Wie soll ich dich umfangen?

Komm', Liebster, komm' und herze mich,

Komm', Liebster, komm' ich herze dich,

Komm', lass' uns lieben Zweie

Uns stellen zu der Freie.


Du hast mich, eh' die Welt gegründt,

Zu deiner Braut erkoren;

Dies' Ehr' hab' ich betrübtes Kind

In Adam zwar verloren,

Da aber mich dein heilges Bad

Von meiner Schuld befreiet hat,

So ist mir dieser Orden

Noch schöner wieder worden.


Komm' denn, mein Heil und sei gegrüsst,

Komm', mein Licht, meine Sonne,

Komm', sei zu tausendmal geküßt!

Die Freude, diese Wonne

Macht, daß mir Honig alle Noth

Und Zucker selbst der bittre Tod;

Denn nun wird mir dein Leben,

Da ich meins aufgegeben.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 322-323.
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