Seepferdchen

[274] Als ich noch ein Seepferdchen war,

Im vorigen Leben,

Wie war das wonnig, wunderbar

Unter Wasser zu schweben.

In den träumenden Fluten

Wogte, wie Güte, das Haar

Der zierlichsten aller Seestuten,

Die meine Geliebte war.

Wir senkten uns still oder stiegen,

Tanzten harmonisch um einand,[274]

Ohne Arm, ohne Bein, ohne Hand,

Wie Wolken sich in Wolken wiegen.

Sie spielte manchmal graziöses Entfliehn,

Auf daß ich ihr folge, sie hasche,

Und legte mir einmal im Ansichziehn

Eierchen in die Tasche.

Sie blickte traurig und stellte sich froh,

Schnappte nach einem Wasserfloh

Und ringelte sich

An einem Stengelchen fest und sprach so:

Ich Hebe dich!

Du wieherst nicht, du äpfelst nicht,

Du trägst ein farbloses Panzerkleid

Und hast ein bekümmertes altes Gesicht,

Als wüßtest du um kommendes Leid.

Seestütchen! Schnörkelchen! Ringelnaß!

Wann war wohl das?

Und wer bedauert wohl später meine restlichen Knochen?

Es ist beinahe so, daß ich weine –

Lollo hat das vertrocknete, kleine

Schmerzverkrümmte Seepferd zerbrochen.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 274-275.
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