Das zwölffte erbauliche Seelen-Lied

[309] Welches kan gesungen werden nach unserm andächtigen Hauß- und Kirchenliede: Von Gott will ich nicht lassen, den er läst.


1.

Laß uns, o Seele, fliehen

Auß dieser bösen Zeit;

Laß uns, O Seele, ziehen

Ins Hauß der Ewigkeit.

Bald kompt der Engel Schaar,

Gen Himmel uns zu führen,

Woselbst uns kan berühren

Kein Unglück noch Gefahr.


2.

Wir sind schon längst gesessen

Im Kärcker dieser Welt,

Wo niemand kan ermessen,

Wie sehr uns nachgestelt

Welt, Teuffel, Fleisch und Blut.

Wir haben außgestanden

In Ketten und in Banden

Mehr, als ein Sclave thut.
[309]

3.

Der Satan hat betrübet

Uns leider! Nacht und Tag.

Wir sind im Creütz geübet

Mehr, als man glauben mag.

Wir lagen grausamlich

Bey Drachen und bey Schlangen

An Leib' und Seel gefangen,

Ja fühlten manchen Stich.


4.

Wir musten furchtsam gehen

Den gar zu schmahlen Weg,

Wir konten schwerlich stehen

Auff dem zerbrochnen Steg.

O welch ein' Unglücks-Tieff'!

Ein Wasser, schwartz und grewlich,

Ein Wasser, das abschewlich

Uns zu verderben lieff!


5.

Hilff Gott, es soll bald werden

Mit uns ein andrer Stand,

Wan wir nur von der Erden

Ins rechte Vatterland

Zu Jesu sind gebracht;

Dan wird uns gar nichts fehlen,

Auch künfftig nicht mehr quälen

Des Satans List und Macht.


6.

Wir kommen auß dem Tuncklen

An einen solchen Ort,

Wo Sonn' und Sterne funcklen,

Wo lauter Frewd' hinfohrt,

Wo Gottes Lob erschallt,

Wo wir in Freyheit wohnen,

Geschmückt mit güldnen Krohnen,

Sehr herrlich von Gestalt.


7.

Da wird man frölich sagen:

Willkommen, liebes Kind!

Dich hat der Engel Wagen

Herauff geführt geschwind'

Und in den Stand versetzt,

Wo du nach tausend Plagen,

Nach lauter Angst und Zagen

Wirst ewiglich ergetzt.


8.

Hinweg, jhr Strick' und Bande,

Hinweg, du Sclaverey!

In diesem hohen Stande,

Da herrschet man recht frey.

Hinweg, Furcht, Pein und Quaal!

Diß alles ist vergangen;

Wir jauchtzen jtz und prangen

Im grossen Himmels-Saal!


9.

Laß uns, o Seele, fliehen

Auß dieser schnöden Zeit!

Laß uns, o Seele, ziehen

Hinauff zur Seeligkeit!

Dort steht der Engel Heer

Bey Sions güldnen Thüren,

Sampt uns zu triumphiren.

Diß ists, was ich begehr!


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 2, Hildesheim 1964, S. 309-310.
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