[282] 1.
Ein Kind ist uns gebohren,
Uns, die wir gantz verlohren
In Angst der Höllen schwebten
Und funden keinen Raht,
Ja wie verzweifelt lebten
Ob unsrer Missethat:
Da schenkt' uns Gott geschwind
Sein Allerlibstes Kind.
2.
Diß Kind hat schöne Namen,
Welch' Ihm vom Himmel kahmen,
Die lasset uns betrachten.
Er heisset Wunderbahr:
Was Menschen nie gedachten,
Ist dennoch worden wahr:
Gott und Marien Sohn
Sind einig in Person.
3.
Sehr wunderbahr von Werken
(Diß muß der Glaube merken!)
Ist dises Kind im Lehren
Und Kirchenregiment,
Daß die, so Sich empöhren,
Durch Seine Macht zertrennt,
Ja durch besondre Kraft
Noch täglich Wunder schaft.
4.
Diß Kind kan Raht ertheilen,
Wen aller Raht verweilen
Und Hülff' uns wil entgehen.
Durchs Wohrt ist ja gemacht,
Was wir für Augen sehen;
Das hat den Raht erdacht,
Zu bringen widrum dar,
Was gantz verlohren war.
5.
Wen uns die Sünde kränken,
Ja schier das Hertz versenken
In lauter Höllenzagen,
So weiß diß Kindlein Raht,
Als das für uns getragen
Die Last der Missethat.
Drum ruft es: Komt zu Mir,
Ich lab' Euch für und für.
6.
Diß Kind kan Krafft erzeigen,
Wen alle Welt muß schweigen.
Ey sehet doch Sein Kämpfen!
Er hält der Kirchen Schutz;
Sein starker Arm kan dämpffen
Der Feinde Macht und Trutz.
Ihm weichen Wasser, Feür
Samt allem Ungeheür.
7.
Wil uns der Tod gleich schrekken
Und unsre Glieder stekken
Ins Grab, da zu verwesen,
Gibt doch diß Kind uns Krafft:
Bald sol der Mensch genesen,
Wird Er gleich hingeraft.
Wo bleibt nun, Tod, dein Spieß?
Wir gehn' ins Paradieß.
8.
Diß Kind thut Heldenthaten,
Die treflich Ihm gerahten,
Es kan den Feind besiegen,
Der Sich so grausahm stelt;
Für Seinen Füssen ligen
Tod, Teüfel, Sünd und Welt.
Du streitest auch für Mich,
O Jesu, ritterlich!
[282]
9.
Mein Vatter, der nicht stirbet,
Auch niemahls sonst verdirbet,
Ja den man Ewig nennet,
Steh bei Mir in der Noht;
Auch wen vom Leibe trennet
Den Geist der herbe Tod,
So lindre Sich Mein Schmertz
Durch Dich, du Vatterhertz.
10.
Diß Kind verschaft hienieden
Uns auch den güldnen Frieden,
Durch Ihn ist Gott versöhnet:
Seht, wie nun Jesulein
Mit Gnad' und Fried' uns kröhnet.
Wer kan doch traurig sein?
Itz gehet aus der Schall:
Der Fried' ist überall!
11.
Ja Fried' ist im Gewissen,
Das uns vorhin gebissen;
Auch bleibt der Fried' im Sterben:
Man wird am Jüngsten Tag'
Erst solchen Fried' erwerben,
Als Jemand wünschen mag.
O Fried' in Gottes Reich,
Kein Fried' ist dir sonst gleich!
12.
Lob sei Dir, Herr, gesungen,
Daß Du bist durchgedrungen
Zu Hülffe Deinen Kindern,
Raht, Held, Krafft, Wunderbahr,
Auch Friede bringst den Sündern,
Der uns entnommen war.
O Fried' in diser Welt!
O Fried' in Gottes Zelt!
Buchempfehlung
Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.
48 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro