Einkehr

[37] Wenn in Dunkelheit zerrinnen

Will des Tags Gestaltenwelt,

Richte deinen Blick nach innen,

Still von eignem Licht erhellt.

Die der Tag verworren trennte,

Sammle wieder sie in Eins,

Die zerstreuten Elemente

Deines wahren, bessern Seins.


Spare nicht das Wort der Rüge,

Willst du offen vor dir sein,

Denn das eitle Kleid der Lüge

Trugst auch du, den leeren Schein.

Falschheit mit verstecktem Höhnen

Bot dir, was dein Herz begehrt,

Und entwand mit Schmeicheltönen

Dir der Wahrheit reines Schwert.


Wenn in wahnbeglückten Tagen

Du in Traumes Arm dich warfst,

Laß die Nacht dir prüfend sagen,

Was du sollst und was du darfst.

Nie zu frühe kann entschwinden

Irrthum, den gehegt dein Herz,

Machte dich die Lust erblinden,

Muß erleuchten dich der Schmerz.
[38]

Doch in tiefstem Schmerzensringen

Und im Sturm der Leidenschaft

Kämpfe sich aus Todesschlingen

Deines beßren Wollens Kraft.

Und sie steigt, zum Licht gezogen,

Wie, von Morgenglanz umwebt,

Aus beruhigt blauen Wogen

Sich der Schönheit Göttin hebt.


Schönheit sei das heil'ge Streben,

Das dich schöpferisch durchquillt,

Das dich leite, wenn das Leben

Eine Wahrheit dir verhüllt.

Strebst du so, dann weiht die Stunden

Deiner Nacht ein reich Gefühl,

Und du siehst dich, schlafentbunden,

Morgen näher deinem Ziel.


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 37-39.
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