Poesie des Schmerzes

[113] Wenn du geliebt, wenn du gehofft,

Wenn du gestrebt, gerungen,

Wenn du mit starkem Willen oft

Dein lechzend Herz bezwungen,

Dann fühlst du, wie zu neuem Werth

Erwacht dein ganzes Leben,

Denn jeder Schmerz, der dich beschwert,

Wird höher dich erheben.


Schmerz ist das eine große Band,

Das alle Welt umschlungen,

Es macht den Besten dich verwandt,

Die je gedarbt, gerungen.

Es lehret den geschärften Blick,

Was sich in Qual verborgen,

Dir zeigt dein eigenes Geschick

Der ganzen Menschheit Sorgen.


Schmerz ist die Sturmesmelodie,

Mit deren Ton erschütternd

Jahrhundert um Jahrhundert schrie,

Dem Todeskampf erzitternd.

Ein Fluch, der mit Erweckungsmacht

Der Völker Schlaf verklagte,

Und mahnend aus der Zeiten Nacht

Zum Kampf, zum Licht sie jagte.
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Und so entsproß dem Fluch das Heil,

Denn aus Vernichtungstoben

Hat stets der Menschheit bessres Theil

Verjüngt sich und erhoben.

Und jede größte, schönste That,

Die neu die Welt gestaltet,

Hat sich aus schmerzgegebner Saat

Dem Sonnenlicht entfaltet.


Was als ein weihevoller Klang

Aus heil'gem Schmerz erblühte,

Wird mit erlösendem Empfang

Ergriffen im Gemüthe.

Wenn Freude nur die Stunde weiht,

Ein Lied, dem Schmerz entrungen,

Geht durch die Welt, geht durch die Zeit,

Im Innern fortgesungen.


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 113-115.
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