16. Der Flüchtling

[172] Wohin so früh am Morgen

Mit Ränzel und mit Stab?

Was treibt mit neuen Sorgen

Dich fort, bethörter Knab?

Es steht in deinen Zügen

Ein lang' verhehlter Gram.

Sag, welch ein Ungenügen

Daheim dich überkam?


»O laßt getrost mich scheiden!

Es will mein eigner Sinn

Die Heimath mir verleiden,

Der ich entfremdet bin!

Wenn noch einmal die Ferne

Mir Herz und Muth bewehrt,

Dann kehr' ich doppelt gerne

Zurück zum alten Herd.«


Mit Fliehen und mit Meiden

Erhoffe nicht Gewinn!

Die Welt wird dich nicht scheiden

Von deinem eignen Sinn.[173]

Und traust du deinem Sterne,

Wirf ab, was dich beschwert!

Es liegt in kleinster Ferne,

Was all dein Herz begehrt!


»Es ist kein weiches Bangen,

Es ist ein bittrer Groll,

Der länger nicht befangen

Das Herz mir halten soll.

Laßt ab, laßt ab, zu fragen!

Mir selber bin ich feind,

Daß ich so lang ertragen,

Was dauernd ich vermeint!«


Zu schnell, zu hastig wandte

Der Groll sich zum Verzicht!

Was nur der Stolz verkannte,

Das Herz verkennt es nicht.

Willst länger du bethören

Der Seele freien Blick,

Du könntest mehr zerstören

Als nur dein eignes Glück!


»Zum alten Zauberkreise,

Den schon das Herz verschwor,

Verlockt ihr holder Weise

Mein allzuwillig Ohr!

Wär's Freude, wär' es Buße,

Gewagt sei Glück und Noth!

Und wär's zum Abschiedsgruße

Das schmerzlichste Verbot!«
[174]

Das Ziel der langen Reise

Lugt an der Straße vor.

Kehr' um zum alten Kreise,

Und poch' an's rechte Thor!

Nimmst du mit raschem Fuße,

Was dir der Groll verbot,

So lachst du einst mit Muße

Der überstandnen Noth!


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 172-175.
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