Fremd gemacht!

[355] Denen, welche so liebevoll waren, diese Erzählungen aus meinem Lebenslaufe zu verfolgen, muß ich noch in Erinnerung bringen, daß – als ich aus der Waldheimat in die Welt ging – mich mein Lehrmeister mit einigem Mißmute entlassen hatte.

Er hielt mich nicht auf, aber da er mich in sein Handwerk eingeweiht und mir selbst das Geheimnis vertraut hatte, wie man Maß nehme, ohne daß ein anderer nach diesem Maß arbeiten könne, so mußte er sich wohl ein immerwährendes Anrecht auf den Schneider in mir erworben haben.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, welche mein Vater oft erzählt und die sich zu Zeiten seines Großvaters zugetragen hatte. Dieser Großvater hatte einen Nachbar, welcher einmal in einer Nacht den Grenzstein versetzte, so daß dadurch der Großvater um einige Klafter Wiesengrund benachteilt wurde. Der Nachbar starb, ohne sein Unrecht gut gemacht zu haben, und was geschah? Jede und jede Nacht mußte er aus seinem Grabe steigen und den Grenzstein auf seinen ursprünglichen Platz zurücktragen. Der Großvater meines Vaters selbst hatte den Geist des Nachbars mehrmals gesehen, wie dieser an der Grenzscheide hin und her ging, bis der Großvater den[356] Grenzstein amtlich richtigstellen ließ und zum Zeichen seiner Verzeihung für den Nachbar eine Messe opferte. Von dieser Zeit an war der Geist nicht mehr zu sehen, er war erlöst, er konnte ruhen.

Nicht viel besser wie diesem Nachbar ist es auch mir ergangen. Ich war denn fortgezogen von meinem Meister und seinem Handwerk. Ich habe in der Welt gelebt und gestrebt – und habe doch noch bei ihm sitzen und nähen müssen. Viele Jahre sind vorbei, seit ich von meinem Lehrmeister gegangen bin; viele Jahre ist es, seit ich jeden Tag an der geistigen Ausbildung und Vollendung meines Wesens arbeite, Hunderte und Hunderte von Büchern lese und selbst welche schreibe; und seit vielen Jahren war es, daß ich gar manche Nacht neben meinem Lehrmeister in irgendeinem Bauernhause saß und schneiderte.

Ich erzähle Träume und sage Wahrheit. Ich erfreue mich sonst eines gesunden Schlummers, aber ich habe die Ruhe von so mancher Nacht eingebüßt, ich habe neben meinem bescheidenen Studenten- und Literatendasein den Schatten meines Schneiderlebens durch die langen Jahre geschleppt, wie ein Gespenst, ohne seiner los werden zu können.

Es ist nicht wahr, daß ich mich tagsüber in Gedanken so häufig und und lebhaft mit meiner Vergangenheit beschäftigt hätte. Ein der Haut eines Handwerkers entsprungener Welt- und Himmelsstürmer hat anderes zu tun. Aber auch an seine nächtlichen Träume wird der flottgewordene Bursche kaum gedacht haben; erst später, als ich gewohnt worden war, über alles nachzudenken, oder auch, als sich der Philister in mir mehr zu reaen begann, fiel es mir auf, wieso ich denn – wenn ich überhaupt[357] träumte – allemal der Schneidergesell' sei, und daß ich solchergestalt schon so lange Zeit bei meinem Lehrmeister unentgeltlich in der Werkstatt arbeite. Ich war mir, wenn ich so neben ihm saß und nähte und bügelte, recht wohl bewußt, daß ich eigentlich nicht mehr dorthin gehöre, daß ich mich jetzt mit ganz anderen Dingen zu befassen hätte; doch hatte ich stets Ferien, war stets auf der Sommerfrische, und so saß ich zur Aushilfe beim Lehrmeister. Es war mir oft gar unbehaglich, ich bedauerte den Verlust der Zeit, in welcher ich mich besser und nützlicher zu beschäftigen gewußt hätte. Vom Lehrmeister mußte ich mir mitunter, wenn etwas nicht ganz nach Maß und Schnitt ausfallen wollte, eine Rüge gefallen lassen; von einem Wochenlohn jedoch war gar niemals die Rede; oft, wenn ich mit gekrümmtem Rücken in der dunkeln Werkstatt so dasaß, nahm ich mir vor, die Arbeit zu kündigen und mich fremd zu machen. Einmal tat ich's sogar, jedoch der Meister nahm keine Notiz davon, und nächstens saß ich doch wieder bei ihm und nähte.

Wie mich nach solch langweiligen Stunden das Erwachen beglückte! Und da nahm ich mir vor, wenn dieser zudringliche Traum sich wieder einmal einstellen sollte, ihn mit Gewalt von mir zu werfen und laut auszurufen: es ist nur Gaukelspiel, ich liege im Bett und will schlafen! – Und in der nächsten Nacht saß ich doch wieder in der Schneiderwerkstatt.

So ging es jahrelang in unheimlicher Regelmäßigkeit fort. Da war es einmal, als wir, der Meister und ich, beim Alpelhofer arbeiteten, bei jenem Bauer, wo ich in die Lehre getreten war, daß sich mein Meister besonders[358] unzufrieden mit meinen Arbeiten zeigte. »Möcht' nur wissen, wo du deine Gedanken hast!« sagte er und sah mich finster an. Ich dachte, das Vernünftigste wäre, wenn ich jetzt aufstünde, dem Meister bedeutete, daß ich nur aus Gefälligkeit bei ihm sei, und wenn ich dann davonginge. Aber ich tat es nicht. Ich ließ es mir gefallen, als der Meister einen Lehrling aufnahm und mir befahl, demselben auf der Bank Platz zu machen. Ich rückte in den Winkel und nähte. An demselben Tage wurde auch noch ein Geselle aufgenommen – bigott, es war der Böhm', welcher vor vielen Jahren bei uns gearbeitet hatte und damals auf dem Wege vom Wirtshause in den Bach gefallen war. Als er sich setzen wollte, war kein Platz da. Ich blickte den Meister fragend an, und dieser sagte zu mir: »Du hast ja doch keinen Schick zur Schneiderei, du kannst gehen, du bist fremd gemacht.« – So übermächtig war hierüber mein Schreck, daß ich erwachte.

Das Morgengrauen schimmerte zu den klaren Fenstern herein in mein trautes Heim. Gegenstände der Kunst umgaben mich; im stilvollen Bücherschranke harrte meiner der ewige Homer, der gigantische Dante, der unvergleichliche Shakespeare, der glorreiche Goethe – die Herrlichen, die Unsterblichen alle. Vom Nebenzimmer her klangen die hellen Stimmchen der erwachenden und mit ihrer Mutter schäkernden Kinder. Mir war zumute, als hätte ich dieses süße, dieses friedensmilde und poesiereiche, helldurchgeistigte Leben, in welchem ich das Glück der Beschaulichkeit so oft und tief empfand, von neuem wieder gefunden. Und doch wurmte es mich, daß ich mit der Kündigung meinem Meister nicht zuvorgekommen, sondern von ihm abgedankt worden war.[359]

Und wie merkwürdig ist mir das: seit jener Nacht, da mich der Meister »fremd gemacht« hatte, genieße ich Ruhe, träume nicht mehr von meiner in ferner Vergangenheit liegenden Schneiderzeit, die in ihrer Anspruchslosigkeit ja so kindlich froh gewesen, und die doch einen so langen Schatten in meine späteren Lebensjahre hineingeworfen hat.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 355-360.
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