Noch Eins vom langen Christian.

[39] Ja, der lange Christian! Der will mir nicht aus dem Kopf. Auch er mußte uns in lieber Erinnerung halten, weil er so bald wieder zu uns zurückkehrte. »Das Fechten,« sagte er, »nimmt das Gewand zuviel her. Und wenn du nachher nur so einen zerrissenen Kerl vorzustellen hast, alsdann halten dich die dummen Leut' für einen Vagabunden und der Standar steckt dich in den Kotter.«

Also hatte sich das ritterliche Fechtgenie und der gewaltige Auf-Schneidergeselle aus Furcht vor dem »Standarn« wieder einmal zur Arbeit geflüchtet.

Der Christian war kein schlechter Schneider! Mein Meister vertraute ihm und mir manche Ster an, doch nur solche, an der ihm nicht viel gelegen war, und wir taten dann gewöhnlich auch unsere Schuldigkeit, ihn wirklich um die Ster zu bringen. Unser Nebenbuhler jenseits des Baches, der »ungarische Schneider«, soll insgeheim ein Gelübde getan haben: er opfere einen wächsernen Handwerksburschen, halb so lang wie der Christian, wenn dieser bewußte Christian Jahr und Tag beim Schneider Natzl verbleiben sollte; und der Christian verblieb trotz seiner angebornen Neigung zum Länderpassieren und zum Fechten, und trotz manchen zweideutigen Achtungserfolges in den Bauernhäusern bei uns, als ob er vom »Ungarischen« heimlich dafür bezahlt worden wäre.

Da war's einmal, daß der Christian und ich auf die[40] Ster beim Stixenbrunner einrückten. Das Stixenbrunnerhaus war keine gesuchte Kundschaft, da hüpften die Katzen auf dem Herd, die Hühner auf dem Tisch und die Ratten im Bett um. Dem Christian war das nicht übel; so große Tiere, meinte er, genierten ihn nicht. Um so mehr die Katzen aus der Schüssel fräßen, um so mehr brächten die Hühner anderartig auf den Tisch, und die Ratten wären – solange sie nicht durch ein Nadelöhr zu kriechen vermöchten – im Bett ziemlich unschuldig. Das weitaus Schlimmste war: das Stixenbrunnerhaus hatte keine Hausfrau.

Wer je einmal Schneider war, der weiß, was das heißt: eine Ster ohne Hausfrau. Das ist wie ein Baum ohne Frucht, wie eine Kirche ohne Gott, wie eine Nacht ohne Stern, kurzum – wie ein hungriger Schneider.

Der Stixenbrunner, ein Mann in den Jahren, wo man den besten Appetit hat, empfand ihn auch, den Mangel eines hegenden, kochenden Wesens im Hause, und eben darum ließ er eilends die Schneider kommen, daß sie ihm das Bräutigamsgewand machten.

»So geh' her, Bauer, und laß dich einmal messen,« forderte ihn der Christian und drehte den ersten Knoten in den Maßfaden. Er verstand es gut, sich als Meister zu gehaben.

Der Stixenbrunner stellte sich mit gespannten Gliedern auf, und während der Christian die stattliche Wesenheit nach allen Richtungen abmaß, fragte ihn der leutselige Bauer: »Ehevor wir zum Schneidernatzl kommen sind, wo haben wir denn gearbeitet?«

»In Amerika!« antwortete der Schneider, denn das war ja der Christian mit der göttlichen Phantasie.[41]

»So so, gar in Amerika,« versetzte der Bauer, ohne weiters überrascht zu sein, denn es muß doch auch das Amerika seine Schneider haben. »Wie tragen sich denn dort die Leute?«

»Lauter häutene Hosen,« berichtete der Christian. »Braucht keiner sein Lebtag mehr als ein Paar.«

»Du lugst 'leicht doch, Schneider!« warf der Bauer ein und zog mit beiden Fäusten sein Beinkleid stramm.

»Wer lugt?« fragte der Christian. »Ich? – Willst sie länger haben die Hosen, als die? – Lugen meinst, daß ich tät'? – Und einen doppelten Träger dazu, daß sie dein Weib nicht so bald abkriegt. – Weißt, das ist das Gute in Amerika, haben dort auch die Weiber ihre häutenen Hosen, daß sie denen der Männer nicht nachstreben.«

»Ja, was sind denn das nachher für Leute?« rief der Bauer aus.

»Wilde sind's!« sagte der Christian.

»Und die brauchen Schneider?«

»Wieso?« fragte der Christian.

»Ja, weil Er bei ihnen gearbeitet hat!«

»Als Schneider –« entgegnete der Christian – »aber was du schon für ein Bäuchlein hast, Stixenbrunner! Rein die ganze Hosenläng'! 's ist die höchste Zeit. – Als Schneider werde ich dort nicht gearbeitet haben, das kannst dir wohl denken. – Hast die Säckel gern tief? Ist im heiligen Ehestand nicht nötig, bleibt sowieso nichts drinnen. – Porträtmaler bin ich gewesen in Amerika. Dort, muß ich dir sagen, malt man nicht auf die Leinwand, herentgegen auf die lebendige Haut.«

»Wie sich bei uns in Europa die Weiber selber anmalen,« rief ich erläuternd dazwischen.[42]

»Schau du auf dein Zwirnabhaspeln, Lehrbub, und sei still,« wies wich der Geselle zurecht. – »Den Brustfleck doch ein wenig ausbandeln, Bauer? Nicht? – Leutanfarbeln heißt man's. Wie bei uns jeder Stand sein Gewand hat, so hat in Amerika jeder seine Farb'. Das Kind wird schwarz angestrichen; junge Männer, die vor den Feind müssen, karminrot, weil diese Farbe schießt; die alten Jungfrauen grün und gelb, die Ehemänner blau. – Brauchst auch einen Uhrsäckel, Bauer?«

Der Stixenbrunner zog seine dickleibige Taschenuhr heraus, um zu sehen, wie lange der Schneider an ihm schon herumtue.

»Die kenne ich,« sagte der Christian, »diese Uhr kenne ich. Ist's nicht der Adamrosel ihre?«

»Kennt Er sie, der Schneider, die Rosel?«

»Mag schon sein, daß er sie kennt, der Schneider, die Rosel.«

»Ist recht gescheit, nachher ist aufs Jahr, wenn der Schneider mit Gottes Willen wiederum kommt, die Bekanntschaft mit der Stixenbrünnerin schon da.« –

Auf diese freundliche Bemerkung war mein Christian verstummt. Und als der Bauer endlich die Stube verlassen hatte und der Christian auf dem Haustisch das schwarze Tuch ausbreitete und auf demselben mit der Kreide die Formen zu zeichnen begann, sah ich, daß letzteres ganz ohne Beihilfe des Maßfadens geschah. Er zeichnete das Haupt eines sehr gutmütigen Wiederkäuers mit langen Ohren.

»Was macht denn der Christian?« fragte ich beklommen.

»Porträtmalen,« antwortete er.[43]

Plötzlich schleuderte er die Kreide auf den Fußboden, daß sie in mehrere Stücke auseinandersprang, schritt rasch an mich heran, der ich auf einem Dreifuß hockte und über meinen ausgespreiteten Knien den Zwirn abhaspelte, und zischelte mir sehr leise und sehr nachdrücklich ins Gesicht: »Jetzt heiratet mir dieser erz-kreuz-sakermentische Bauer meine Schöne weg!«

Mir glitt vor Schreck der Strehn vom Knie, daß in den Fäden eine arge Verwirrung entstand.

»Aber!« pfauchte er und sprang einen Schritt zurück, daß er auf die knisternde Kreide trat, »ich räche mich, wie sich vor mir noch kein Schneider gerächt hat!«

»Wir schleichen uns davon!« riet ich, um Schlimmerem vorzubeugen.

»Nein, du einfältigster aller Lehrbuben! Wir bleiben da, wir machen dem Nebenbuhler das Bräutigamsgewand – aber wie!«

Es war eine bange Stunde. Der Christian zeigte mir – mich gleichsam zum Mitschuldigen machend – den Maßfaden mit den vielen Knoten.

»Er ist schön gewachsen, das läßt sich nicht leugnen,« sagte der fürchterliche Geselle, »aber an diesem Faden hängt seine Schönheit! Die innere Hosenlänge mache ich zur äußeren, die Bauchweite zur Knieweite, die –«

»Christian!« rief ich empört drein, »denk', daß Gott im Himmel lebt!«

»Der wollt' mir nicht bange machen,« sagte der Heide, »aber der Meister auf Erden! Den Wochenlohn abziehen, das Gesellenbüchel verschandieren – oh nein, meine schöne Rosel! So hoch dich estimieren, die Freud' tu' ich dir nicht an.«[44]

Er begann zu arbeiten, und zwar ganz regelmäßig, das heißt ein wenig flink, ein wenig flott und ein wenig schlampig.

»Der Christian,« so fuhr er nun halb für sich, und ich denke doch auch halb für mich, fort, »der Christian, meine Schöne, der hat schon ganz andere fahren lassen, als du bist! – Im Sachsenland ist's gewesen, auf der Länderpassier, daß ich auf der Landstraße dahermarschiert bin, sein und aufrecht, wie mich Gott erschaffen hat, und ein Liedel dazu. Fährt eine Herrschaftskalesch daher. Vier Rösser, zwei Diener und eine Frau. Eine Frau! Ich sag' nichts weiter, als daß ich mir gewunschen hab': Wär' ich der Kaiser Napoleon, die müßt' ich haben! – Die Frau, mich sehen und die Kutsche halten lassen, ist eins. Ein so schöner Mann! sagt sie und zu ihrer Seiten täte Platz sein, wann ich wollt' mitfahren. – Gnädige Frau Gräfin, sage ich, oder was Ihr seid! und mach' meine höfliche Verbeugung. Wie wir ins G'schloß kommen, ein sehr ein schönes G'schloß! muß ich mit ihr Nachtmahl essen und die Lakeln (Lakaien meinte er) haben nur einmal Augen gemacht. – Ich sollt' nur zum Trinken schauen! sagt sie, und der Wein! Ein sehr ein guter Wein! Und das verliebte Gesichtel von ihr! – Durchlauchtigste Fürstin, sag' ich, oder was du bist. Und nach dem Essen, da zieht sie das Seidenmantill aus und –«

»Aber tu' der Christian doch nicht gar so stark lügen!« war an dieser Stelle mein Einwand.

»– und ich sollt', sagt sie, dran das Futter anheften, das sich losgetrennt hätt'! – So, sage ich, zum Flicken hast mich mitgenommen, Majestät, Frau Königin, oder was du bist! – Auf der Stell' hab' ich zusammengepackt[45] und bin auf und davon in der kohlrabenfinsteren Nacht. Eine sehr eine finstere Nacht!«

»Langer Christian!« sprach ich und legte den aufgewickelten Zwirnknäuel auf den Tisch, »daß ich mich selber so anlügen wollt', das täte ich nicht.«

»Ich lüge ja nur dich an!« rief er lachend, »und jetzt, da hast ein Vorderteil, kannst die auswendige Naht machen.«

Auf solche Weise ist dieselbige Ster angegangen. Und sie hat sich alsbald zur schönsten Poesie entfaltet, denn der Stixenbrunner hatte ein großes Faß mit gut gegorenem Holzapfelwein im Keller und davon brachte er uns jeden Vor- und Nachmittag einen Krug voll auf den Tisch.

»Den Holzäpfeln,« sagte da der Christian einmal, während er sich nach einem Zug, der so lang war als er selber, den Mund wischte, »den Holzäpfeln, wie sie höllisch hart und sauer auf dem Schlehenbaum wachsen –«

»Auf dem Holzapfelbaum, will der Christian sagen,« redete ich drein.

»Das mag bei deinem Vater daheim der Fall sein,« entgegnete er entrüstet, »anderswo, wenn du in der Welt herumgekommen wärest– ! Kurz und gut, den Holzäpfeln möchte man's nicht ansehen, daß soviel süße Teufelei drin steckt. – Die vordere Naht wird gesteppt. Keine Seiden ist nicht da? Nachher paspulier' mit Spagatschnüren!«

Ich merkte, der Wein hatte seine Feindseligkeit gegen unseren Arbeitgeber noch nicht ganz ertränkt. Wie konnte das noch werden? Und wie wurde es?

Eines Abends war der Stixenbrunner im Sterben! Bei Bräutigamen ist der Brauch, daß sie während ihres[46] Brautstandes täglich eine Messe hören. Man trifft da mit der Braut zusammen, führt sie ins Wirtshaus, wo ihre Zeche mitunter schon aufs Kerbholz der Hochzeitsgäste kommt, begleitet sie ein Stück Weges nach Hause und übt sich ein wenig auf den heiligen Ehestand ein.

Von einem solchen Kirchgange war der Stixenbrunner krank nach Hause gekommen. Er mußte sich ins Bett legen, klagte über Kopfschmerz, Durst, Frost und Hitze, und am Abende war er im Delirium. Mein langer Christian war überaus aufgeregt, trug Kruzifix, Weihwasser und Sterbekerze zusammen und war unermüdlich in Aufzählung von Personen, denen er bereits sterben geholfen. Der Bauer wollte aus dem Bette springen, und da man ihn in demselben festhielt, schrie er mit heller Stimme: »Schneider Christian, du bist ein Ochs!«

»Gottlob!« sagte der Christian, »kennen tut er mich noch.«

Hierauf lief er ums Bügeleisen, das er an der Herdglut heiß machte; er wollte Essig drauftropfen und verdampfen lassen. »Der Essigdampf,« sagte er, »ist das allerbeste Mittel, hat auch dem Kirchberger Bader geholfen, wie ihm das Hirn im Kopf ist schimmelig worden.«

Aber die Magd, welche die Haushälterin machte, beklagte, daß kein Tropfen Essig im Hause sei.

»Holzapfelwein tut's auch!« rief der Schneider.

Als der Kranke das Wort hörte, klagte er über Durst.

Doch der Christian versteckte das Trinkglas und trug den Hausleuten mit heiligem Ernst auf: »Nur keinen Wein geben! Das wäre Scheidewasser – scheidet Leib und Seele augenblicklich auseinander.«

Als Schlafenszeit war, stand der Christian noch lange[47] im Stübel des Bauers und blickte tiefster Wehmut voll den blassen schlummernden Kranken an.

Als wir, der Christian und ich, hernach in der Vorstube in unserem gemeinsamen Bette lagen, vertraute mir der Geselle: »Ich habe schon Abschied genommen vom Stixenbrunner für diese Welt. Das Bräutigamsgewand legen sie ihm morgen an für die Reise in die Ewigkeit. – Mich gefreut bei der ganzen Geschicht' nur die Rosel.«

Und in solcher Freude und Trauer ist er sanft eingeschlummert. Ich befahl in meinem Nachtgebet alles, was da lebt und liebt und leidet und stirbt nach gewohnter Weise der Gnade Gottes, und dann war auch ich nicht mehr.

Ich weiß den Traum nicht, der mich in derselbigen Nacht geängstigt; es war diesmal auch nicht der Arm des Christian, der beklemmend sich sonst so gern über meine Brust schmiegte, weil der Traum dem Gesellen im Schlafe das tat, was er im Wachen anderen – er log ihm was vor. Mir war's diesmal doch ein anderes, das mich plötzlich aufweckte und noch im Wachen unbeschreiblich ängstigte. Es mochte um Mitternacht sein, in der großen Stube war ein seltsamer Schein und an der Wand glitt langsam ein Schatten hin. – Ich wollte den Christian wecken, aber ich vermochte keinen Laut von mir zu geben. Und siehe – jetzt schwebte im blassen Gewand eine schlanke Gestalt, in der rechten Hand eine Urne tragend, dahin – deutlich sah ich das fahle Antlitz des Stixenbrunner. Bevor mir's noch gelang, mich zu einem Lebenszeichen zu ermannen, war die Erscheinung wieder verschwunden.

Schaudernd weckte ich jetzt den Genossen.

»Kränken tut's mich, Rosel, daß du mir nichts willst glauben,« lallte er noch im Traume.[48]

»Wach' auf, Christian! Der Bauer ist gestorben!«

Da war er munter.

»Wer hat's gesagt?« fragte er.

»Du nicht, Christian!«

»Nachher kann's wahr sein.«

Wir machten Licht. Die Stube war wie sonst.

»So werden wir ihn nu halt einmal auf die Bank legen gehen,« sagte der Geselle, »aber nicht so, wie der ungarische Stuhlrichter seinen Mann – auf den Bauch. – Wo hab' ich denn meine Socken?«

»Auf den Füßen, Tollpatsch.«

»Du hast recht, Jüngling. Und jetzt hübsch traurig sein, wir gehen zum Toten.«

Hierauf zogen wir uns an und weckten ein paar Hausleute.

Gingen dann an die Tür des Sterbezimmers und öffneten sie leise. Da saß er mitten in seinem Bette aufrecht und hielt mit beiden Händen den großen Schneiderkrug an den Mund und trank. Und trank unaufhörlich.

Er bemerkte uns nicht und der Christian zog die Tür zu und murmelte etwas eintönig: »Jetzt können wir wieder schlafen gehen.«

Die Geistererscheinung war nun erklärt: Der Bauer hatte sich aus dem Keller den Krug Wein geholt.

Am nächsten Morgen ging er nicht in die Kirche, aber gegen Mittag kam er aus seinem Stüblein hervor, setzte sich zu uns an den Tisch, schaute dem Christian zu, der den Boden der Hofe auf eine Tischecke stülpte, stopfte eine Pfeife an und rief: »Einen solchen Herrn hab' ich mir schon lang nicht heimgetragen, als wie gestern.«

»Bist ihn jetzt los?« fragte der Christian, ohne ihn[49] anzublicken, hieb dabei aber mit dem Bügeleisen so derb auf die Kreuznaht, daß das Haus erbebte.

»Die größten Räusche,« sagte der Bauer mit der Würde des Spruches, »die größten muß man sich wieder heraussaufen.«

»Mein größter,« erzählte der lange Christian, »hat siebenundzwanzig Tage gedauert. Und noch zur Sommerszeit, wo die Tage so lang sind.«

»Und in den Nächten?«

»Hab' ich mir ihn allemal nachgebessert, so lange, bis die väterliche Erbschaft nach der Vaterlehre bis auf den Pfennig verwendet war. – Mein Sohn, hat er gesagt, mein guter Vater, viel ist's nicht, was ich dir hinterlassen kann. Vergeude es nicht, auf geistige Genüsse verwende es, das ist der beste Gebrauch. Ich bin ein höllisch leichtsinniger Mensch, aber das kann ich mir in der Sterbestunde sagen: Des Vaters letzten Willen habe ich redlich vollführt.«

»Ich meine, Schneider, von Ihm läßt sich was lernen,« sprach der Bauer und ging nun langsam seiner Arbeit nach.

Der Christian bügelte weiter und war nachdenklich. Mehrmals legte er den Finger an die Nase, kraute sich hinter dem Ohr, sann und bügelte.

»Ein bayrisches Gröschel wollte ich geben,« murmelte er endlich, »wenn ich wüßte, ob das mit dem siebenundzwanzigtägigen Rausch auch wahr ist!«

»Das wird wohl der Christian selber am besten wissen,« meinte ich.

»Gehört,« sagte er und warf das fertige Kleidungsstück auf die Bank hin, »gehört habe ich's schon sehr oft,[50] und aus meinem eigenen Munde! Ich sehe auch alles klar vor mir, das Wirtshaus, das Trinken und das Hinausfliegen bei der Tür, wie der Wirt mit dem rechten Fuß nachhilft – das alles sehe ich vor mir. Aber wenn ich anderseits halt bedenke, mein Freund, wie mancher Mensch aufschneiden tut...!«

So log der Christian denn mitunter so lange, bis er's selber glaubte, und glaubte es so lange, bis er dahinter kam, daß es niemand als er selber gesagt habe. Als der Stixenbrunner Hochzeit hielt und die Braut den Christian, der seines überschlichten Anzuges wegen hinter den Musikanten stand, im Vorübergehen freundlich anlächelte, schlug er die flachen Hände zusammen und rief: »So ist's doch wahr, daß wir zwei einmal ineinander verliebt gewesen sind! Mir selber hätt' ich's nicht geglaubt.«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 39-51.
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