Vom Gesellen Wenzelaus.

[51] Ein andermal hatten wir einen Gesellen, der hieß Wenzelaus Kragerl – sein Name stehe nun einmal schwarz auf weiß, da er doch so oft weiß auf schwarz gestanden, an der Tafel beim Hauerwirt, beim Kreuzwirt, beim Goldenen Löwen, beim Grünen Baum usw. Der Wenzelaus Kragerl war ein Kiselak der Wirtshäuser.

Er arbeitete bei meinem Meister über ein Jahr; er war ein geschickter und fleißiger Kleidermacher; der Meister überließ ihm oft das »Zuschneiden«. Er konnte wochenlang, selbst ohne Unterbrechung an Sonn- und Feiertagen, auf einem Fleck sitzen und arbeiten; wenn es ihn aber doch einmal drängte, eine heilige Messe zu hören, so verfehlte er gottsunselig die Kirche, kam ins Wirtshaus hinein und blieb auf einem Sitz tagelang drinnen, bis der letzte Kreuzer vertrunken war. Er trank Wein, zuerst ohne, später, mit und schließlich wieder ohne Wasser; ganz zum Schlusse versickerte die Sache in Schnapsgläschen, zu deren Frommen, wenn es darauf ankam, er sich seines Taschenmessers, seiner Sacktücher, seiner Halsbinde und dergleichen überflüssigen Dinge entäußerte. Hernach suchte er wohl wieder die Werkstatt auf und war an den ersten Tagen etwas mißmutig, man wußte nicht recht, ob über das vertrunkene Geld, oder über das vermißte Weinglas. Indes munterte ihn die Arbeit und dadurch die neue Anwartschaft auf neue[52] Freuden bald wieder auf, er war leutselig, stets zufrieden mit Kost und Pflege und oft, während der gute Meister wegen mißlicher Zubereitung der Speisen über verschiedenerlei innere Beschwerden ächzte, sang und erzählte der Geselle Kragerl die lustigsten Possen. Und so wußte sich der brave Schneider beim Wirt und bei den Arbeitgebern beliebt zu machen und alle, die ihn kannten, ehrten ihn ob seiner Beharrlichkeit.

Eines Montags früh schickte der Meister den Gesellen und mich zum Bauer unter der Alm. Das war das letzte Haus oben auf dem Berge, es stand wie ein Wärzchen auf hoher Stirne, darüber filzte sich schon das braune Gelocke des Gezirms und noch weiter oben breiteten sich die Glatzen der kahlen Kuppe vom Stuhleck. Von diesen Höhen nieder war mancher Schrund, manche Schlucht durch Wetter und Wasser in den Erdboden gerissen und das Haus unter der Alm stand unheimlich eingefriedet von solchen Gräben und Riesen, in welchen Wässerchen rieselten. Im Hause selbst war es recht wohnlich, und die Leute empfingen und behandelten uns – die wir aus dem Tale kamen, aus der Weltgegend, wo eine Kirche stand und ein ganzes Dorf voll aller Herrlichkeiter. – mit Ehrfurcht und suchten uns mit allem, was sie vermochten, zu entschädigen dafür, daß wir aus der großen Welt in die Einöde hinaufgestiegen wären, um ihnen Hosen und Joppen zu machen. Und da sagte Wenzelaus Kragerl einmal zu mir: »Lieber im letzten Häusel der Erste, als im ersten Dorfe der Letzte sein!« Er hatte nämlich zur selben Stunde bereits Erkundigung eingezogen und in Erfahrung gebracht, daß gegen die Rättenegger Seite hin, eine Stunde von unserer Ster, ein Holzmeisterhaus[53] stehe, in welchem Tabak, Wein und Branntwein zu haben wäre. Er gedachte zur Stunde vielleicht kaum, mit dem Hause in Verbindung zu treten, doch die Nähe und Möglichkeit beseelte ihn, das äußerte sich im schönen Schwunge, welchen er in den Zuschnitt der Lodenkleider legte.

Zur Zeit der Lichtfeier ging ich gern ums Haus herum, erstens, um mit den Augen unten im Talkessel die Häuser aufzusuchen, an welche sich Erinnerungen knüpften, zweitens, um mir die Höfung des Almhauses zu betrachten, mit irgendeinem Jungen zu rangeln, eine Magd zu necken, oder ähnliche Ergötzlichkeiten eines halb übermütigen, halb schwärmerischen Schneiderlehrlings zu treiben. Auf solchem Rundgange um das Haus bemerkte ich eines Tages oben auf dem Dache einen großen hölzernen Hammer, welcher durch Schnüre mit einem der Wassergräben in Verbindung stand. Ich fragte den Bauer, was diese Vorrichtung bedeute.

»Das ist der Nachtwächter,« antwortete der Bauer, »wenn's ein Gewitter gibt, so haben wir, seit da oben die Lahn ist abgerutscht, allemal Wasser; ja ein' solchen Laster, man glaubt's nicht! Seit ich beim Haus bin, hat's uns zweimal den Stall weggerissen. Nachtig Stund' ist's: bis das Gebäude kracht, daß man's wahrnimmt und in die Hosen sind't und zu Hilf' kommen kann, ist schon alles g'fahlt. So hab' ich mir da ein Z'sammg'richt gemacht. Oben im Wassergraben ist eine Wehr und gleich wie das Wasser ein Eichtl höher steigt, als wie für gewöhnlich, richtet's ein Radel an, die Schnur zieht und der Hammer auf dem Dach hebt rechtschaffen zu klöckeln an, daß wir gleich munter werden. Auf solches Wecken sind wir auch noch allemal früh genug hinauskommen,[54] eh' der Schwall ist dagewesen, und daß wir geschwind haben können vorarbeiten.«

Das Handwerkerbett stand auf dem Dachboden, gerade unter dem Hammer; somit schienen wir vor der Gefahr des nächtlichen Ertrinkens im Schlafe gesichert zu sein.

»Eh weh, das Wasser,« bemerkte der Geselle Kragerl, »das hab' ich ohnehin im Magen, daß ich's gar nicht sagen kann und allerweil kommt's mir vor, die Wasserscheu wird noch einmal mein Tod sein.«

Eines Tages ging ihm der Tabak aus. Gegen Abend sagte er zu mir, daß er gehört habe, drüben im Holzmeisterhause sei Tabak zu bekommen und er wolle sich welchen holen. Ich erschrak unwillkürlich über dieses Vorhaben und bot mich an, ihm um die Lichtfeierzeit Tabak holen zu wollen. Er entgegnete, daß er diesen Dienst nicht annehmen könne, da er wisse, daß ich – ohnehin nur eine einzige Stunde des Tages frei habend – dieselbe gern mit dem Hausgesinde auf dem Anger oder in der Scheune zubringe; zudem fühle er sich selbst durch das viele Sitzen so verkrümmt und eingetrocknet, daß ihm das kleine »Sprüngel« zum Holzmeisterhause hinüber gar nicht schaden werde.

Solch doppeltem Beweggrund widerstand ich nicht. Der Wenzelaus ging und kehrte nicht zurück. Ich schlief dieselbige Nacht allein unter dem Hammer und schlief die folgende Nacht allein. Des Tages über nähte ich mit Fleiß, wurde aber von Stunde zu Stunde trübsinniger.

Man fragte, wesweg der Geselle nicht da sei? Ich teilte meine Vermutung mit und arbeitete. Man legte der Abwesenheit keine Bedeutung bei und überhäufte mich, den treulich Verharrenden, mit um so größeren Auszeichnungen.[55] Sie ahnten nicht, daß diese Auszeichnungen für mich von Stunde zu Stunde drückender wurden; sie ehrten in mir den Vollendeten und ahnten nicht, wie nahe ich der Grenze meines Könnens stand. Das Zugeschnittene war fast ausgearbeitet; sollte ich es gestehen, daß ich noch Lehrling sei, der zum Zuschneiden weder berechtigt noch befähigt ist? Oder sollte ich gehen, den Wenzelaus zu holen? Aus Erfahrung wußte ich, daß dieses nicht tunlich sei. Einst, als mich der Meister geschickt hatte, den Gesellen aus dem Wirtshause zu bringen, hatte mich der Mensch anfangs zwar mit Jubel empfangen und zu seiner Tränke treiben wollen, dann aber, als er mein Begehren hörte, mich derb davongejagt. Er wußte eben keinen Raum auf Erden, in welchem er sich als freier Mann, ja als Herr fühlen konnte, als das Wirtshaus; und so war er im Zeichen des Weinzeigers ein rabiater Geselle. Demnach entschloß ich mich, wenn der Wenzelaus am Abende des zweiten Tages nicht komme, dem Herrn Arbeitgeber höflich zu gestehen, daß ich mit der zugeschnittenen Arbeit fertig und somit petschiert wäre. Der Abend kam, der Wenzelaus nicht; so habe ich denn meine Mitteilung gemacht.

»Hu – hu!« stieß der Bauer unter der Alm hervor und machte ein saures Gesicht, »das ist rar.«

Ich machte wohl den Vorschlag, daß ich's versuchen wolle, irgendein Stück zuzuschneiden, wenn sich ein's wollt' anmessen lassen.

»Ist halt eine zuwidere Sach',« meinten sie alle, »von einem Lehrjungen was zuschneiden lassen; wenn der Loden verschnitten, der Janker vermacht wird – wer steht gut dafür?«[56]

Was ich dazumal litt! Wie ich den Gesellen verfluchte – selbst meine eigene, unselige Existenz verwünschte!

Da war ein Mädchen im Hause – ein schon betagtes – welches meine innere Pein geahnt haben mußte.

»Wenn er keine andere Arbeit mehr hat, der jung' Schneider,« sagte es, »ich bin froh, wenn er mir mein Jöppel anmißt und macht; wird schon recht werden, ein Faltel mehr oder eins weniger, da bin ich nicht so heikel.«

Wahrlich, in demselben Augenblicke hatte ich dem Mädchen auch alle Fältchen verziehen, die auf seinem so wohlwollenden Gesichte tagten. Ich maß ihr das Jöppel an und verständigte mich mit ihr in schönen Ehren, in welcher Form, wie weit, wie lang sie das Ding haben wolle. Danach machte ich im Meßfaden meine Knöpfe, achtend darauf, daß ich später auch wisse, was jeder Knopf zu bedeuten habe. Denn möglich wäre es bei einem solchen Lehrling mit einem solchen Faden an einer solchen Joppe für einen solchen Kunden-daß das gottverlassenste Zeug zustande käme.

Dann nahm ich die große Meisterschere des Gesellen zur Hand und schnitt im Namen Gottes in den Loden.

Daß ich die nächste Nacht kaum ein Auge schloß, ist denkbar. Ich fühlte mich gedrückt und gehoben zu gleich von der Wucht der Aufgabe, die ich auf mich genommen hatte. Die Teile waren geschnitten, das Los gefallen, aber morgen erst sollte es sich zeigen, in welcher Weise. Als ich endlich einschlummerte, hatte ich Traumbilder. Ich sah das Mädchen, das betagte, mit der neuen Joppe. Ein Ungeheuer war's. Dem reihten sich noch andere Bilder an, verschiedenen Gehaltes, das eine ängstigte mich, das andere versöhnte mich wieder. – Plötzlich[57] hub es über meinem Haupte an zu hämmern, daß es hallte und schallte. Ich sprang auf und rief laut: »Leute, eilends, eilends! Das groß' Wasser ist da!«

»Was hat denn heut' der dalkerte Schneider?« sagten die Leute aus ihren Winkeln, »wie wird jetzt ein groß' Wasser sein, ist ja draußen schöne, sternhelle Nacht!« Dieweilen hörten sie aber auch selbst das Hämmern und standen doch auf und gingen, um nachzusehen, was denn vom Poltern des Hammers auf dem Dache die Ursache sei.

Und haben diese Ursache auch gefunden.

Oben in der Wehr lag der Wenzelaus. Der hatte durch seinen Körper den gewöhnlichen Abfluß des Wassers verhindert und das Signalrad angerichtet. Und der gute Hammer auf dem Dache pocht nicht allein, wenn Wasser kommt, sondern auch wenn ein Schneider in den Bach fällt. Bald war der Schneider aus dem Wasser gezogen. Es war kein Leben in ihm. Der Bauer knetete ihm den Magen, rieb mit aller Gewalt an der Herzgrube, stellte ihn auf den Kopf, und das war dem Wenzelaus denn doch zu dumm. – Er kam zu sich und war sehr erstaunt, daß er heute gleichwohl so viel Wasser getrunken habe. Mittlerweile war auch der Rausch, der ihn auf dem Heimwege in den Bach geworfen hatte, verflogen, und er ward allmählich wieder ein Schneidergeselle wie vor und eh'.

Endlich war meine Joppe fertig geworden. Klopfenden Herzens half ich nach, als sie das Mädchen anprobierte; sie war geraten, nur über dem Busen war sie viel zu weit.

»Dafür kann der Schneider nichts,« sagte Wenzelaus. Und mit diesem Worte hat er meine Verzeihung, meinen Respekt und meine Liebe sich wieder erworben.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 51-58.
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