Auf der Alm gibt's ka Sünd'.

[309] Ich sag's ja immer, für einen zehnjährigen Hirtenknaben auf der Alm ist es schwer, Mensch zu sein.

Ich meine nicht etwa mich, denn ich war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt, oder vielleicht schon vierzehn, kurzum, in dem Alter, wo der Mensch am allergescheitesten ist.

Daher steckte ich an jenem heißen Sommertage beim Kornschneiden die Sichel in eine Garbe und versicherte den Oberknecht, daß es sehr nötig sei, auf die Alm zu gehen und nachzusehen, ob bei einer solchen Hitze die Kühe nicht etwa schon die Klauenseuche hätten.

Der Oberknecht gab noch der Befürchtung Ausdruck, ob nicht etwa ich die Seuche an den Klauen hätte, weil mir in denselben die Sichel auf einmal so unbequem geworden wäre! Ich dachte: dumm ist auch unser Oberknecht nicht, und ging meines Weges.

Als ich hernach oben über die Almen hinging in der weichen, sonnigen Luft, da sah ich vor mir im Federgrase plötzlich den Giglgoggbuben liegen. Er lag auf dem Rücken, reckte die Knie empor und sah in den Himmel hinein. Das war der mit den zehn Jahren.

»Giglgoggbub!« rief ich ihn an. Da schob er sich erschreckt über.

»Was hast du denn jetzt gedacht?« fragte ich ihn.

»So!« entgegnete er träge, »habe ich was gedacht?«[310]

»Mein Lieber!« verbesserte er sich dann, »ich hab' freilich zu denken genug. Vielleicht kannst du mir sagen, was ich anfangen soll.« Und indem er sich halb aufrichtete und mit einem Ruck des Hauptes das braune Haar aus der Stirne schnellte, daß man seine blauen, treuherzigen und gar schalkhaften Augen sehen konnte, sagte er: »Weißt, Lenzischer (vom Lenz der Sohn), daß ich eine Todsünd' haben muß?«

»Zu was brauchst denn du, kleinwinziger Knirpsl, eine Todsünd'?« war mein Aufbegehren.

»Ja, bis morgen früh brauch' ich eine Todsünd'! Ich werd' zur Firmung nicht angenommen, wenn ich nicht früher beichten geh'. Läßliche Sünden hab' ich mir schon einen Haufen zusamm'studiert, aber läßliche Sünden wären nur für Kinder was, sagt unser Michel – man soll auch ein paar Todsünden darunter haben. So simulier' ich jetzt schon hin und her und bis morgen früh muß ich Todsünden haben.«

»Da ist noch eine ganze Nacht dazwischen,« tröstete ich.

»Woher nehmen und nicht stehlen!« rief der Junge, der ein besonders dreistes, fürwitziges und wiederum überaus einfältiges Bürschlein war. »Wie hast denn du's angestellt?«

»Wie werd' ich's angestellt haben?« war meine Entgegnung, »ich hab' den Katechismus hergenommen und hab' mir fürs erste einmal die sieben Todsünden herausgelesen. Wenn man sie nur einmal beim Namen kennt, nachher geht's schon; weißt Giglgoggbub, das ist wie bei deinen Kühen, wenn du sie beim Namen lockst, so kommen sie.«

»Gelt, Lenzischer,« sagte er jetzt und berührte mit den Fingerspitzen meinen Arm, »gelt, du hilfft mir ein wenig, schau, weil ich alleweil auf der Alm sein muß und nichts[311] lernen kann. Und wenn ich schon einmal beichten geh', so will ich kein kleiner Bub nimmer sein. Und da hätt' ich ganz recht, sagt der Michel.«

Da hat er ganz recht, dachte ich mir, und einen halberwachsenen Burschen muß man schon ein bissel aufputzen – eine Feder auf dem Hut und ein paar frische Todsündlein in der Haut. Über Nacht werden sie ihm wohl nicht schaden und morgen legt er sie ja doch wieder ab.

»Zum Beispiel die Hoffart,« meinte ich, »was sagst denn dazu?«

»Du bist unten bei den Leuten und hast leicht reden,« sagte er mißmutig.,»vor wem soll ich denn da heroben hoffärtig sein?«

»Du kannst dir's eben nicht anschicken,« war meine Entgegnung, »so wollt' ich mich an deiner Stell' doch einmal kerzengerad hinstemmen vor meine Kühe und sagen: Ihr Hascherln, Ihr! Da habt Ihr einen so großen Schädel und keinen Verstand drin! Ich herentgegen hab' ein kleinwinziges Köpfel und treib' euch hin, wo ich will und trink' euch das Euter aus, wann ich will und bin ein Herrgottssakermenter gegen euch Kreaturen, weil ich ein Ebenbild Gottes bin und ihr seid Vieher! – Das ist eine Hoffart, wie du sie auch unten nicht schöner finden wirst.«

»Ist mir zu dumm,« sagte der Giglgoggbub drauf.

»Oder der Geiz!« schlug ich vor, »was sagst du denn zum Geiz?«

»Vom Geiz hab' ich schon was gehört,« meinte der Bub, »aber das ist eine Sünd' so mehr für reiche Leut'.«

»Da hast du recht,« gab ich zu, »bei einem Halterbuben möcht' der Geiz in der ersten Nacht schon verhungern. Diese Todsünd' frißt zu viel, die lassen wir den Reichen. Aber friß einmal du, ist ein lustiges Geschäft und hast[312] gleich Fraß und Völlerei beisammen – eine prächtige Todesünd'!«

»Du Narr!« sagte der Giglgoggbub, »das müßt nicht einmal eine Todsünd' sein; die täte ich und wenn sie eine dreigöttliche Tugend wär'! Und hätt' sie schon lange getan, wenn die Schwaigerin den Schlüssel zur Butterkammer nicht alleweil im Kittelsack hätt'.«

»So nimm ihr den Schlüssel weg,« rief ich, »kannst gleich raufen mit ihr, über und über wild werden, und kehr' die Hand um – hast den Zorn!«

»Der Zorn wäre auch wieder eine,« überlegte mein Junge, »da hätte ich nachher gleich zwei auf einmal.«

»Drei kannst haben auf einmal, wenn du g'scheit bist.«

»Drei sind mir zu viel;« sagte der Bursche entschieden.

»Also willst du mich in der Butterkammer mithalten lassen?« war meine etwas unredlich einlenkende Frage.

»Ja, Schnecken, wenn du magst!« spottete mein Bürschlein, »wenn ich mit der Schwaigerin schon einmal um den Schlüssel raufen muß, so will ich nachher das Butterschlecken auch allein haben und keinen Menschen mithalten lassen – gar keinen!«

»Was sag' ich denn? Dann hast die vierte – den Neid.«

Der Giglgoggbub besann sich ein wenig, dann sagte er: »Nein, die Butterkammer erspar' ich mir auf ein andermal. Der Michel sagt, wenn der Mensch einmal ausgewachsen ist, nachher braucht er um den Schlüssel nicht mehr zu raufen.«

»Freilich nicht, weil die Schaigerin im voraus weiß, daß sie unterliegt.«

Nach einer Weile, als er, mit einem abgerissenen Rispenhalm[313] spielend, so ein wenig um seine Nase herumgefuchtelt hatte, bis er niesen mußte, sagte ich: »Helf' Gott, Giglgoggbub!«

Dagegen hatte er nichts einzuwenden.

»Was hast sonst noch für Sünden, Lenzischer?« fragte er.

»Ja, mein Lieber, jetzt sind nicht mehr viel da. Etwan noch die Unkeuschheit?«

»Pfui!« rief der Giglgoggbub und spuckte in einem weiten Bogen vor sich hin.

»Weißt du wohl auch, was damit gemeint ist?« gab ich ihm zu bedenken.

»Du wirst mir's nicht sagen müssen, Gott sei Dank!« versetzte er entrüstet. »Wie nachst Herbst die Christenlehr' ist gewesen, hab' ich's schon gelernt. Die Unkeuschheit ist das, wenn der Mensch zu der Stalldirn geht.«

Nun begriff ich seinen Abscheu, denn die Stalldirn im Giglgogghause war wohl sicherlich sechsmal so alt als der Halterbub, war auch etwas unsäuberlich in ihrem Aussehen, trotzdem fand sie es nötig, alljährlich am Fronleichnamstag durch einen grünen Kranz auf dem Kopftüchel – denn Haar hatte sie keines mehr – öffentlich zu bezeugen, daß es ihr bislang noch gelungen sei, ihre Jungfrauenwürde zu bewahren.

Also abgelehnt.

»Jetzt haben wir nur noch eine und das ist die Faulheit.«

»Auf die bin ich selber gekommen,« antwortete der Bub, »deswegen hab' ich mich da ins Gras gelegt, und wenn du mich nicht davon hättest aufgestört, kunnt ich jetzt die schönste Sünd' fertig haben. Bei der dummen Rederei kommt doch nichts heraus.« –

Dieses Gespräch ist an jenem heißen Sommertage auf[314] der Alm sozusagen geführt worden von mir Altklugem halb im Spaß, vom Giglgoggbuben halb im Ernst gemeint. Es ist zu nichts gekommen, weiß auch nicht, wie er sich die Nacht über vorbereitet hat und vermute fast, daß bei der Sach' der Wille fürs Werk hat gelten müssen.

Darum sage ich, für einen Hirtenjungen auf der Alm ist es schwer, Mensch zu sein, weil er nicht Schick und Gelegenheit dazu hat. Er wächst auf wie ein Tannling und lebt so gottlos unschuldig wie das liebe Vieh. Trotz aller Begierden, die in ihm brennen, kann er kein Gesetz übertreten, weil außer den einfältigen Aufträgen des Almbesitzers keines da ist. Also ist mir bei jener Begegnung mit dem Giglgoggbuben das Wahrwort klar geworden, daß es »auf der Alm ka Sünd' gibt«.

Keine schwere wenigstens, denn solche vermögen es nicht, in die Höhe zu steigen, sie bleiben in den Tälern und Ebenen und nisten sich in großen Städten ein. Unter vielen Menschen kommen sie am besten fort und wachsen sich oft zu wahren Prachtexemplaren aus. Bei den allermeisten Sünden ist es wie mit dem Heiraten: »Eins kann's nit richten, 's müssen zwei dazu sein.« Wenigstens zwei, so beim Lügen und Betrügen, beim Stehlen und Morden usw. Es müssen Zwei dazu sein. »Der A – dam war ein Gerechter, als die Eva kam, wurde es schlechter!« dichtete ein alter Dorfschulmeister, und dieses Gedicht, welches unser gottbegnadetes Geschlecht ein für allemal von A bis zum Z behandelt, schließt mit dem letzten Menschen:

»Der Vorletzte mag auf der Hut sein, der Z – dam wird wieder gut sein.«

Ich will in einer so gefährlichen Sache nicht weiter dozieren; kein Mensch glaubt's, wie schwer es ist, sich zwischen lauter Sünden durchzuwinden, ohne sich das Röcklein unsauber[315] zu machen. Aber noch erzählen muß ich, daß ich erst vor kurzer Zeit meinen Giglgoggbuben wieder gesehen habe.

Das war aber kein dummer Giglgogg mehr, das war ein kräftiger hübscher Mann, der neun Jahre bei den Soldaten gewesen und jetzt Förster in den Graf Meranschen Revieren ist. Seine blauen munteren Augen hat er immer noch. Wir wurden bei einem Glase Wein bald wieder gut Freund und ergötzten uns an den Erinnerungen, »wie es dazumal halt so lustig gewesen«. Unsere Stimmung war endlich so weit gekommen, daß ich ihn fragen zu dürfen glaubte, ob er seither draußen in der Welt das wohl gefunden, woran er damals auf der Alm so großen Mangel gelitten.

»Todsünden, meinst!« lachte er. »Wie die Maikäfer fliegen sie da draußen herum; 's mag wohl sein, daß mir eine oder die andere bisweilen anbumst (angeprallt) ist. Wie das schon geht, du weißt es ja.«

»Ich weiß es,« war meine Antwort, »sie bumsen nur an, und wenn man sie nicht selber fängt, so fahren sie wieder zurück, Akkurat wie die Maikäfer.«

»Und eine habe ich doch gefangen,« vertraute er mir schelmisch, »das ist dir aber schon eine ganz picksüße!«

»So? – wo denn?«

Beugte er sich zu mir vor, machte mit dem Finger einen kurzen Deuter so ein wenig über die Achsel zurück und schmunzelte: »Da oben auf der Alm!«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 309-316.
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