Stiegelhupfer – Batzenschupfer!

[48] Na, da hätten wir uns wieder einmal sauber geirrt mit der Meinung, die Hauptsache am Menschen sei – das Haupt. Hauptsache an ihm ist vielmehr die Faust und nebenbei vielleicht auch jener Körperteil, der als Prügeldepot am geeignetsten erscheint. Denn des Menschen Ziel auf Erden ist, zu hauen und gehauen zu werden. Wer dafür keinen Sinn hat, der ist das Schlimmste, was einer sein kann, er ist – feige.

Feigheit! Das ist ein verdammt schlimmer Schimpf. Wer hat Kurasch, feige sein zu wollen?

Denn ich muß wohl. Mein Angesicht trägt keines jener Zeichen, daß ich in der Waffenführung je – ungeschickt gewesen. Ich habe überhaupt niemals geschlagen, gestochen oder geschossen – bin das eine oder das andere im Ernste auch nie worden. Der Widerwärtigkeiten eines ungewöhnlichen Lebensganges waren gerade genug, um zu zeigen, was es bei mir mit Mut oder Feigheit für eine Bewandtnis hat. So habe ich weiter niemanden persönlich anzurempeln gebraucht. Sonst wird dem Freimütigen, dem Aufrichtigen geraten, stets hübsch einen Waffenpaß und was dazu gehört, bei sich zu tragen. Ich habe nichts bei mir, als mein Taschentuch, in das ich mir einen Knoten mache, wenn mich jemand tödlich beleidigt – um übrigens am nächsten Tage kaum mehr zu wissen, was der Knoten bedeutet. Mit einem solchen Taschentuch kommt man ohne[49] viel Keilerei durch die Welt, und die Wörter »Mut«, »Feigheit« brauchen weiter nicht strapaziert zu werden.

Einst, als Schuljunge, gehörte ich zu den Bravsten, obschon es sich in Biographien ganz gut macht, wenn es heißt: Ist als Schuljunge ein Strick gewesen. Das zeigt gleich von Energie und Persönlichkeit. Nun, mir tut es leid, ich war stets ein »braves Buberl«. Zwar im Kleiderzerreißen ließ ich mich nicht lumpen, auf Löcher in den Hosen kann die Gassenjungenehre nicht verzichten. Beim Klettern, beim Rutschen, beim Hüpfen, beim Schaukeln und dergleichen beweglichen Festen gab es oft flotte Fetzen. Nicht so aber beim Ringen, Rangeln und Raufen. Bei solcher Kraftmesserei mit Kameraden sind freilich weniger die Löcher in der Joppe zu fürchten, als die im Kopf, wovon das im eigenen Kopf immer noch weniger Unannehmlichkeiten verursacht, als das im Kopf des Gegners. Ich kann mich als Junge nicht erinnern, je einmal einen Handel angefangen zu haben. Meine Luft waren fröhliche Spiele, bei denen Einvernehmen herrschte, und zeigten andere dabei einen lebhaften Willen, so gab ich gewöhnlich nach. Den Luxus eines eigenen Willens konnte ich mir erst viel später gestatten. Dafür ist er aber um so ausgewachsener geworden.

Nun wurde damals unter uns Schulbuben eines Tages ein Schimpf aufgebracht; ich weiß nicht, wer ihn erfand oder einführte, weiß auch nicht, was er besagen wollte und worin seine unerhörte Ehrenrührigkeit bestand – kurz, es war ein grauenhafter Tort, der dadurch verübt wurde, daß ein Junge dem andern zurief: »Stiegelhupfer – Batzenschupfer!« Keiner, auf den das Wort gemünzt war, ertrug es. Entweder er gab es mit gesteigerter Art in Ton, Miene und Gebärde zurück, oder er rächte sich sofort handgreiflich an dem Schänder seiner Ehre. Ich allein ertrug es. Anfangs[50] zwar mit saurem Lächeln, später mit wirklicher Gelassenheit, und ging meines Weges. Das war ihnen nun aber gerade recht, daß sie eine Zielscheibe gefunden hatten, die – wie es sich für eine richtige Zielscheibe auch geziemt – nicht zurückschoß. Sie krähten mir also bei jedem Begegnen die Worte »Stiegelhupfer – Batzenschupfer« zu. Da war es einmal auf dem Heimweg aus der Schule, daß drei Buben – darunter der Stagler Luis – mir am Fresenbach den Steg vertraten, über den ich zu gehen hatte. Der Stagler Luis und ich waren überhaupt stille Feinde, ohne daß wir wußten, warum. Es konnte einfach einer den andern nicht leiden, und da ist nichts zu machen. Grundloser Haß wie grundlose Liebe sind immer die echteste Sorte. Sie standen also vor dem Steg, ich kam herbei und forderte sie auf, mich meines Weges gehen zu lassen. »Stiegelhupfer – Batzenschupfer!« sagten sie mit sehr ruhiger, entschlossener Stimme, streiften ihre Ärmlinge zurück und machten sich kampfbereit. Ich stand eine Weile da und überlegte, wie mit diesen Gegnern ein gütiges Übereinkommen getroffen werden könne, denn mein Vater pflegte jede Verspätung, mit der ich aus der Schule kam, zu ahnden.

»Wirst wohl umkehren müssen, Stiegelhupfer,« höhnten sie. »Oder bleibst stehen, bis du in den Boden wachsest, so bleiben wir auch stehen. Stiegelhupfer – Batzenschupfer!«

Ich schaute in die rauschenden Wellen des Baches. Was ist da zu machen? Ohne Steg ist nicht hinüberzukommen, eine nächste Brücke nicht zu erreichen. Ich suchte vernünftige und würdige Vorstellungen zu machen: »Ist das schön, daß drei gegen einen stehen?«

»Stiegelhupfer – Batzenschupfer!« Das war ihr Bescheid und ihre Rechtfertigung. Dabei machten sie allerhand malerische Grimassen. Jetzt kam plötzlich etwas über mich,[51] das mir sonst fremd gewesen: Wutgefühl. Ein paar Sätze, und wie ein wütender Bock rannte ich den Luis, als den mittleren der Besatzung, in den Bach hinein – so jäh und heftig, daß sich's keiner versah. Das Wasser plätscherte hoch auf und trug den Jungen dahin. Ein vierfacher Hilferuf, denn ich schrie selbst mit. Und dann hatten wir mit vereinten Kräften tüchtig zu tun, weiter unten, wo der Bach sich über Sand flacht, den Zappelnden und Gurgelnden hervorzuholen. Als der so Gerettete am Ufer lag, war ich mit ihm auf einmal allein, die beiden anderen hatten sich in Ansehung drohender Unannehmlichkeiten langen Fußes davongemacht.

»Hast nasse Füße bekommen, Luis?« fragte ich gleisnerisch, denn am ganzen Kerl war nicht ein Faden trocken. »Macht nichts, ich hab' zwei Paar Hosen an, davon kriegst eine. Tu' nur geschwind dein Gewand aus, sonst wirst krank.«

Schweppernd tat er's, warf sein schwammig-schweres Zeug weg, schlüpfte in mein Gewand, so viel ich übrig hatte und huschte davon wie ein geprügelter Pudel. Nun erst hatte ich Zeit zur Schadenfreude und wiegte mich in ihr wie in einer Sänfte. Denn der Luisel schämte sich. Er schämte sich! Aber am nächsten Tage, als er mir das Gewand zurückbrachte, stand er eine Weile so seitlings da, schielte an die Wand hin und murmelte: »Gestern, das war dumm!«

»Ich bin halt so zornig gewesen,« war meine Entschuldigung.

»Geh', Tschappel! Nit von dir, von mir ist's dumm gewesen, daß ich dich nicht hab' über den Bach lassen wollen.«

Da schlug ich vor: »Ist's dir recht, Luisel, wenn wir von jetzt an gute Kameraden sind?«[52]

»Gilt schon. Hätt' dich eh' alleweil gern gehabt, wenn du nit so stolz wärst gewesen,« gab er zur Antwort.

Meine Friedfertigkeit nannte er Stolz – diese Auffassung erfüllt mich noch heute mit Stolz. Und sie zeigt mir, daß der Junge vielleicht halb unbewußt die Schimpf- und Rauflust wie etwas Gemeines, die gelassene Friedfertigkeit aber wie etwas Vornehmes empfunden hat.

Wir sind dann wirklich gute Kameraden geworden, sind es bis heute geblieben, und erst vor kurzem haben die beiden Alten jenen Knabentort an der Fresenbachbrücke wieder einmal lachend besprochen.

So war also damals die einzige Heldentat, die ich je begangen, als Racheakt ganz vortrefflich mißlungen. Es ist wohl auch seither schon geschehen, daß Lumpen und Schurken mich in Zorn gebracht haben. Doch wäre ich in solchen Fällen für ein regelrechtes Duell schwer zu gebrauchen gewesen. Erstens schlage ich mich mit Lumpen nicht, und der mich aus Bosheit beleidigt, ist einer; und zweitens fehlt mir im Zorn die Geduld, um alle Förmlichkeiten zu erfüllen. Wenn ich den Feind nicht sofort durchbohren kann – nach wenigen Stunden ist der Zorn verpufft, und den Degen gegen einen völlig gleichgültigen Menschen zu heben, ist kein Vergnügen.

Im ganzen weiß man nicht, welcher Mut größer ist: der, den Feind totzuschlagen, oder der – ihn laufen zu lassen.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 48-53.
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