Vom heiligen Wasser.

[185] Eines Tages – es war an einem sommerfrohen Pfingstmontage – führte meine Base mich über die Almen stundenlang dahin. Sie trug einen Armkorb mit Brot und anderlei, in der Hand einen Gehstock und einen Rosenkranz, der am Stocke hinabpendelte. Ich trug nichts als ein freudig gehobenes Herzlein, denn wir gingen an einen Ort, den ich noch nicht kannte, der aber nach aller Beschreibung unerhört merkwürdig war.

Wir wanderten nach Heilbrunn. Dort steht hoch auf dem Berge, zwischen Wäldern, eine große Kirche und in derselben ist ein Brunnen, der die Kranken gesund macht. Meine Base und ich, wir waren beide gesund, aber die Base trug in ihrem Armkorb bei dem Brot eine leere Flasche bei sich – .

Als wir die Fischbacher Almen hinter uns und unterwegs den Rosenkranz dreimal abgebetet hatten, setzten wir uns vor einer Waldkapelle nieder und aßen. Die Base hatte ihre blaue Schürze so über die Knie gespannt, daß es einen kesselförmigen Tisch gab, in dem das Weißbrot und der Kuchen lagen. Schon dieser Wallfahrtskuchen mit den süßen Korinthen brachten mich in Weihestimmung, und wie wir früher gegangen waren und gebetet hatten zu Ehren der Mutter Gottes, so aßen wir jetzt ihr zu Ehren den Kuchen und waren heiter. Und die Base behauptete, der Mensch könne so lustig sein wie er wolle und zeitweise auch ein bißchen tun, was man Schwachheiten nennt, wenn er nur alles unserem Herrgott zu Ehren aufopfere, so sei es gleich[186] ein gutes Werk. Soviel ich noch weiß, war dann meine Frage, ob man Gott zu Ehr' anstatt auf dem Stein zu knien auf dem Kopf stehen könne und die Füße gegen Himmel recken? »Ei ja, freilich, mein Kind,« beschied die Base, »ob du die Hände bittweise gegen Himmel reckest oder die Füße, das wird alles eins sein, wenn du nur einen guten Gedanken dabei hast.« Gute Gedanken zu haben hielt sie für sehr wichtig, mir war nur nicht ganz klar, was sie unter guten Gedanken verstand. Denn ich war schon inne geworden, daß man Gedanken an gute Sachen – böse Gedanken nennt.

Wer weiß, wie tief wir uns noch in die Geheimnisse der Gottverehrung verstiegen hätten, wenn nicht hier ein Weggenosse zu uns gestoßen wäre. Der Kaplan von Fischbach, ein junger Herr mit frischrotem Gesicht, an dem die Wangen zwei Grübchen bildeten, wenn er lachte. Er war in schwarzem Gehrock und gewichsten Röhrenstiefeln. Ich wäre fast lieber mit der launigen Base allein gegangen; denn mit dem geistlichen Herrn Kaplan zu marschieren, da ist man keinen Augenblick sicher, ob er nicht auf einmal anhebt, aus dem Katechismus auszufragen. Das tat er nun aber nicht, im Gegenteil, er erzählte unterwegs Geschichten. Er ging nämlich auch nach Heilbrunn, um am nächsten Tage dort die Messe zu lesen und Beichte zu hören – als Aushilfe bei den vielen Wallfahrern, die am Pfingstdienstag sich einzufinden pflegten.

»Wenn wir gut anziehen,« sagte er gleich zu uns, »so können wir in einer Stunde schon den Kirchturm sehen. – Wirst du wohl so weit laufen können, kleines Böckel?«

Das Böckel war an mich gerichtet, und mir wurde ganz heiß in den Wangen ob der auszeichnenden Anrede, die noch dazu ohne jeden Beigeschmack von Katechismus war.[187]

»Und wenn wir ihn auch erst in zwei Stunden sehen,« fügte der Kaplan bei, »er läuft uns nicht davon; die Mutter Gottes steht auch noch am Abend auf dem Altar und erhört uns, wenn wir nur recht fleißig beten können.«

Da wir also den Alm- und Waldwegen entlang, die bergauf und talab gingen, mit Weile eilten, so entfaltete sich ein freundliches Gespräch, bei welchem meine Base die Frömmigkeit etwas mehr hervorkehrte, als es ihr vielleicht gerade ernst gewesen, während der Kaplan ganz weltlich plauderte und lachte.

Und plötzlich fragte er: »Kennt ihr wohl auch den Ursprung von Heilbrunn? Nein? Aber der ist ja sehr schön, den muß ich euch doch erzählen.«

Geschichten! Ich trappelte nicht schlecht neben seiner dahin.

Der Kaplan erzählte: »Es war vor mehr als zweihundert Jahren. Da lebte in Holland ein reicher Mann. Er konnte aber seinen Reichtum nicht genießen, denn er war stockblind. Alle berühmten Ärzte und alle Arzneimittel wollten nicht helfen, da hat er gemeint, ob ihm nicht unsere liebe Frau helfen könne, wenn er recht fleißig zu ihr wollte beten. Das hat er getan und darauf hatte er in der Nacht einen merkwürdigen Traum. Er sah eine wilde Gebirgsgegend mit finsteren Wäldern, tiefen Schluchten und hohen Bergkuppen und es träumte ihm, daß er sich sollte ausmachen und ins Land Steiermark reisen. Dort sei im wilden Birg eine Gegend, Ofenegg genannt, da werde er an einem Bildnis Mariens einen Brunnen finden; mit diesem Wasser solle er sich waschen, dann würde er sehend werden. Das erstemal gab er nicht viel auf solchen Traum, als ihm aber in der zweiten Nacht gerade so träumte und in der dritten Nacht wieder, da nahm er das für eine Erscheinung und teilte[188] seiner Frau den Entschluß mit, ins Land Steiermark zu reisen und den Brunnen zu suchen. Die Ehefrau erkannte ebenfalls die göttliche Fügung und beide machten sich auf die Reise. Zuerst wußten sie gar nicht, wo das Land Steiermark liege. Von einem gelehrten Mann erfuhren sie, daß sie über Länder und Länder hin so lange der Mittagssonne zureisen müßten, bis sie in die Welt der hohen Berge kämen, die Alpen genannt. Dort würden sie das Land Steiermark wohl erfragen. Also sind sie gereist und nach vielen Wochen in die Alpen gekommen. Das war aber Tirol, sie mußten wieder viele Tage lang gegen Sonnenaufgang wandern, bis sie endlich ins Land Steiermark kamen und in die Hauptstadt Grätz. Dort fragten unsere Reisenden aus Holland nach der Gegend Ofenegg. Ja, die wäre weit hinten in den Bergen und sie sei eine rauhe Wildnis. Wohlgemut wanderten sie die angegebene Richtung hin, bis sie durch einen langen Graben hinaufkamen zu dem Berge Ofenegg. Aber dort gingen nun drei schlechte Steige auseinander und sie standen lange da und wußten nicht, nach welcher Seite sie sich zu wenden hätten. Da kam ein Hirtenknabe gegangen, der hatte nasses Haar, obschon es nicht regnete. Und als sie den Knaben fragten, weshalb er so naß sei, antwortete er, er käme just vom Bild am heiligen Brunnen, wo er sich das Haupt gewaschen habe, damit sein Kopfweh, an dem er leide, geheilt werde. So hat er sie dahingewiesen. Die Wallfahrer aus dem fernen Holland sind niedergekniet vor dem Bild in der Wildnis, der Blinde hat an der Quelle sich die Augen befeuchtet und ist zur selbigen Stunde sehend geworden. Wie er den ersten Blick tut hinaus in die Berge und Täler, da ruft er aus: O mächtiger Gott, das ist jene Gegend, die ich im Traume gesehen habe! – Solches Wunder hat der geheilte Holländer im Lande weitum verkündet, bevor sie[189] die Heimreise angetreten. Er ist sehend geblieben und hat sich des Lebens gefreut. Zum Heiligen Brunnen aber sind Andächtige gekommen von nah und fern, und viele haben dort Heilung gefunden. Bald wurde über dem Brunnen und dem Bildnisse eine Kapelle errichtet, und später ist die große Kirche erbaut worden, zu der wir heute wallfahrten.«

Als der Priester so erzählt hatte, sind mir eine Weile schweigend neben ihm hergegangen, die Base wohl in Verwunderung und Andacht versunken, ich mit einer Frage auf der Zunge, die sich lange nicht ins Freie getraute. Endlich aber rief ich doch aus: »Ist das wahr?«

Der Kaplan schaute mich über quer an, solche vorwitzige Fragen schien er nicht gewohnt zu sein. Dann antwortete er ganz gemütlich: »In Heilbrunn kannst du dir die ganze Beschreibung kaufen; ist ja auch die Geschichte vom Holländer dabei.«

Endlich blickte über den Waldrücken die Kirchturmspitze herüber. Da stellte meine Base den Armkorb auf den Boden, nestelte aus demselben ein rotes Wollentuch, um es sich über Achseln und Brust zu legen – auf daß sie vor der lieben Frau im Festgewand erschiene. Dabei hatte sie aus dem Korb die große Flasche, wie man solche schon damals für Sauerbrunnwasser zu haben pflegte, hervorgezogen, um zu sehen, ob sie nicht etwa Schaden genommen.

»Ah,« sagte der Kaplan, »das ist gescheit, daß ihr Sauerbrunn bei euch habt. Da darf man sich wohl ein wenig den Durst löschen.«

»Sauerbrunn ist halt keiner drinnen,« antwortete sie demütig, »sie ist leer, weil ich beim heiligen Brunn Wasser hineinfüllen und mit heimnehmen werde.«

»Ihr nehmt vom Wasser mit heim?«[190]

»Wenn was krank wird, Leut' oder Vieh, daß man gleich eine Hilf' hat.«

Der Kaplan schwieg, ich glaube gar, er hat den Kopf geschüttelt, als ob ihm die Sache nicht ganz recht wäre.

So sind wir zur Kirche gekommen. Da drinnen war der Brunnen, der in einen Kessel niederplätscherte. Viele Andächtige waren schon da, Männer und Weiber, sie knieten vor dem Altare und an den Bildnissen herum; andere standen in Reihen vor dem Beichtstuhl; andere strebten sachte vor zum Brunnen, um sich Hände und Gesicht zu waschen, mit einem angeketteten Blechschöpfer zu trinken oder Wasser in Flaschen zu füllen. Unerschöpflich rieselte aus dem Gestein die Quelle und hoch oben stand unsere liebe Frau, von vielen Lichtern umgeben. Während dann ein Priester in goldenem Mantel vor den Altar trat und unter Orgelbegleitung die Litanei gesungen wurde, und während die Base in der Kirche herumschlich, um die Bildstöckeln zu küssen, stellte ich mich zum Beichtstuhl an. Als ich dahin kam, saß drinnen der Kaplan von Fischbach, unser Reisebegleiter. Das war mir unangenehm, denn das, was ich zu beichten hatte, betraf auch ihn. Aber gesagt mußte es werden: Ich sei im Glauben sündig geworden.

»Wie meinst du das, im Glauben sündig geworden?« fragte er leise durch das Gitter heraus.

»Ich kann nicht mehr alles glauben, was geschrieben steht und was zu glauben vorgestellt wird,« antwortete ich nach der Formel.

Er wendete sich angelegentlicher zu mir und fragte nach den näheren Umständen. Da habe ich ihm zagend einbekannt, den Ursprung von Heilbrunn könne ich nicht recht glauben. Wenn unsere liebe Frau dem reichen Holländer schon habe helfen wollen, warum nicht gleich in Holland,[191] warum hat er erst so weit nach Steiermark reisen müssen? Und warum wirkt sie gerade bei einem Reichen Wunder, daß er seinen Reichtum genießen könne!

»Das Vertrauen, mein Kind!« sagte der Kaplan, »Gott hat sein Vertrauen prüfen und stärken wollen. Wenn du das nicht fassen kannst, so bete fleißig. Die Geschichte ist freilich aufgeschrieben und verbreitet worden, daß sie die Leute glauben sollen. Aber wenn du sie gerade nicht glauben kannst, so ist das Unglück auch nicht gar so groß. Es ist ja kein Glaubensartikel. Nur nimm dich in acht. Wenn's einmal anfängt abzubröckeln, da fallen nachher immer größere Brocken. – Gehe hin und bete drei Vaterunser, drei Ave Maria und den Glauben.«

Dann murmelte er die lateinische Lossprechung und machte mit flacher Hand das Kreuz über mich.

Von der darauffolgenden Nacht ist nichts zu berichten als ein Traum. Den berichte ich aber auch nicht, weil der Träume dummer Bauernjungen wegen doch keine Kirchen gebaut werden.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 185-192.
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