Das verwunt tigertier

[185] In dem kurzen ton Hans Sachsen.


26. juni 1545.


1.

Ein tigertier, das wont in einem walt,

darinnen war der tierlein manigfalt,

über die all das tigertier war küne

Es het sein stande auf einem plan ser weit,

besorgt sich vor keiner geferlikeit,

wan es war als vol meienblüt und grüne.

In einem hag verborgen lag

ein jeger, het gelauscht den ganzen tag

schoß mit dem armbrost heimlich aus der hecken

ein scharfen stral ins tigertier, zu stunt

es in das hinterdich heftig verwunt

und tet das starke tier heftig erschrecken.


2.

Ein fuchs der sprach: »wer hat dich so verwunt?«

das tigertier sprach mit seufzendem munt:

»mein feint ist hinter mir heimlich verborgen,

Der mich hat hinter rück also entleibt.«

Esopus dise fabel uns beschreibt,

daraus lert er uns, alzeit sten in sorgen,

Weil mancher man nichts bös hat tan,

stet sicher da auf aller eren plan[185]

unschuldig gar, beide an mund und hande

und hat nach tugent alle zeit gestrebt

und erbar wie ein biderman gelebt,

das er fürcht gar kein bös geschrei noch schande;


3.

Aber des schentling schnöden klaffers munt

in hinterwertling durch sein zungen wunt,

durch neit und haß, doch heimlich und verborgen

Und bringet auf in ein falsches gezücht,

macht stinkent im sein gut erlich gerücht

und stößt in erst in heimlich angst und sorgen.

Darum man spricht: vor eim böswicht

und bösem maul kan man aufheben nicht,

aber vor eim dieb kan man wol einschließen;

auch ist eins klaffers giftig zunge los

ei! erger vil, dan ein scharfes geschoß,

die hinter rück tut die unschulding schießen.

Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870, S. 185-186.
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