Paul Scheerbart

Immer mutig!

Ich hatte mich verstiegen.

Und das kam mir so selbstverständlich vor.

So mußte es kommen.

Jetzt konnte ich nicht mehr weiter; rauf ging's nicht mehr und runter auch nicht.

Allerdings – runter wär's wohl gegangen – runterkommen kann man immer.

Aber die Sache hatte einen Haken.

Neben mir ging's hinunter in die Tiefe – da hätte ich mich kopfüber hineinstürzen können – doch bei dem Sturz wäre mir wohl der Atem vergangen – und mein Körper wäre wohl zu Brei geworden.

Ich befand mich in einem Gebirge, das aus hartem Stein bestand.

Es tat mir schon leid, daß ich so rücksichtslos immer höher gestiegen war.

Ich starrte die glatte Felswand vor mir nicht sehr geistreich an; in die grausige Tiefe wagte ich nicht hinabzublicken, denn ich glaubte, nicht ganz schwindelfest zu sein.

Und siehe, da hob sich vor mir in der glatten Felswand eine Platte heraus und schob sich zur Seite, und ich erblickte in der entstandenen Öffnung ein kleines Nilpferd, das kaum halb so groß war als ich selbst.

»Na, Onkelchen,« sagte das Nilpferd, »wohin willst Du?«

»Ich habe mich verstiegen!« erwiderte ich traurig.

»Das merkt'n Pferd!« rief da das Nilpferdchen. »Tritt nur näher! Oder – willst Du abstürzen?«

»Nein! Nein!« sagte ich schnell.

Und ich folgte dem kleinen Tier, das eine Lampe anzündete und mich durch einen Felsengang führte ... Nach ein paar Augenblicken stand ich in einem sauberen Felsensaal.

Oben in den hohen, schwarzen Gewölben brannten weiße Ampeln aus Milchglas; Birnenform hatten die Ampeln – die Stengel hingen unten als dicke Schnüre.

Jetzt erst bemerkte ich, daß das kleine Nilpferd, das wie ein Mensch auf den Hinterbeinen ging, einen dunkelblauen Flanellrock anhatte; der ließ nur den Kopf und die vier Füße frei.

»Nimm Platz!« sagte das Nilpferd, und es setzte sich auf einen[9] Schaukelstuhl. Ich setzte mich neben dem großen grünen Ofen auf eine Holzbank.

Eine dunkelgraue Plüschdecke war über den ganzen Fußboden gespannt.

Von Möbeln sah man nicht viel; es schien eine Art Empfangsraum zu sein.

Es war mir aber außerordentlich gleichgültig, wo ich mich befand; ich war müde und abgespannt und durchaus nicht froh über meine Rettung.

»Dir ist wohl nicht ganz wohl!« sagte das Nilpferdchen nach einer Weile.

Und ich erwiderte hastig:

»Wenn das nicht stimmt – dann weiß ich nicht mehr, wie viel drei mal drei ist.«

»Die Antwort,« flüsterte mein Retter, »ist von einer geradezu seltsamen Bestimmtheit.«

Ich starrte den hohen, grünen Ofen an und war stumm wie ein Stockfisch.

Wir hörten im Hintergrunde langsam eine große Uhr ticken und rührten uns nicht.

So mochten wir wohl eine gute halbe Stunde gesessen haben, als das Nilpferdchen leise fragte:

»Hast Du vielleicht ein Manuskript bei Dir, das recht traurig stimmt? Du hast doch sonst immer Manuskripte bei Dir.«

Ich drehte den Kopf langsam um, sah das Nilpferdchen groß an und sagte unsicher:

»Woher weißt Du denn, daß ich sonst immer Manuskripte bei mir habe? Ich muß mich doch wundern.«

Da sprang das Nilpferdchen von seinem Schaukelstuhl auf und hopste im Felsensaal herum und rief laut:

»Er muß sich doch wundern! Er muß sich doch wundern! Daß ein redendes Nilpferdchen ihn gerettet hat – das wundert ihn nicht. Aber daß das Tierchen so viel weiß – das wundert ihn.«

Und dann sprang das kleine Vieh ganz dicht an meine Seite und sprach im tiefsten Baß:

»Ich freue mich ganz eklig, daß Du Dich noch wunderst. Leute, die sich noch wundern können, sind noch nicht ganz tot. Und daß Du noch nicht ganz tot bist, das ist sehr gut. Denn – wärest Du ganz tot, so hätte ich's bedauern müssen, Dich gerettet zu haben; Leichen rettet man doch nicht.«

[10] Ich blickte dem Nilpferdchen ins Gesicht und wunderte mich jetzt, daß es so gut reden konnte. Und ich fragte leise und höflich:

»Was soll ich tun?«

»Gib mir,« antwortete das Tier, »eine Geschichte zu lesen, die recht traurig stimmt.«

Da suchte ich denn in meinen Taschen und blätterte in allen meinen Sachen, schüttelte oft den Kopf und gab dem freundlichen Nilpferd schließlich eine Geschichte, die mir in diesem Falle zu passen schien.

Das kleine Tier setzte sich eine blaue Brille auf, ging mit meinen Blättern wieder zum Schaukelstuhl, ließ sich auf diesem vorsichtig nieder und las:

Quelle:
Paul Scheerbart: Immer mutig! Frankfurt a.M. 1986, S. 9-11.
Erstdruck: Minden (Bruns) 1902.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Immer mutig!
Immer Mutig!: Ein Phantastischer Nilpferderoman Mit Dreiundachtzig Merkwurdigen Geschichten... Volume 1
Immer mutig!
Immer mutig!

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon