Der Hut im Meere

[90] Das Sorrentiner Marktschiff trug

Orangen über Meer

Und flog mit leichtem Möwenflug,

Als wenn's ein Dampfer wär'.

Viel Volk fuhr mit; die Luft war lind

Und alles frohgemut,

Dann blies von Capri starker Wind –

– Fahr' wohl, mein grauer Hut!


Bis eingerefft das Segel war

Lag Kiel und Mastbaum schief,

Der Bootsmann schalt, der Weiber Schar

Zum Sant' Antonio rief.

Noch einmal mir der Freund erschien

Im Kampf mit Schaum und Flut,

Dann trieb's ihn gen Pompeji hin

– Fahr' wohl, mein grauer Hut!


Er füllte sich, schlug um und sank

Salzschwer hinab zum Grund;

Nun tut ihm die Korallenbank

Der Tiefen Wunder kund.

Asträen nisten um ihn her

Und Madreporenbrut,

Und der Polypen scheußlich Heer

– Fahr' wohl, mein grauer Hut!
[90]

Hoch am Vesuviusgipfel stand

Ein Wölklein licht gekraust,

Als ich den letzten Gruß ihm sandt',

Das Haar vom Wind zerzaust:

»Sohn Irions ... im Auge quillt's ...

Du warst mir weich und gut,

Einst Filz und jetzt Salzwasserpilz

– Fahr' wohl, mein grauer Hut!«


... Graziella fuhr im Schiff wie ich,

Mein Unglück nahm sie wahr

Und bot als Schutz vor Sonnenstich

Ihr Busenfürtuch dar.

Und als mein Haupt, derweil sie's knüpft,

In ihrem Schoß geruht,

Hat mir das Herz vor Freud' gehüpft

... Fahr' wohl, mein grauer Hut!

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 1, Leipzig/ Wien 1917, S. 90-91.
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