Sibylle

[179] Einsam in der Felsenhöhle,

Tiefen Ernst in keuscher Seele,

Wohnte Phöbus Priesterin.

Oft, in stiller Nächte Hüllen,

Nahte sich der Gott Sibyllen,

Zu erleuchten ihren Sinn.


Staunend fiel sie vor ihm nieder,

Ihr erschauerten die Glieder,

Die der hohe Gast durchdrang.

Und sie öffnete die Lippen,

Und es schollen rings die Klippen

Von prophetischem Gesang.


Auf geweihte Palmenblätter

Grub sie dann den Spruch der Götter,

Von Apoll ihr offenbart.

Vieler Menschen Söhne kamen,

Fragten, lasen, und vernahmen,

Was der Zukunft Schooß bewahrt.
[180]

Aber öfters fuhr der Flügel

Eines Sturmwinds, trotz dem Riegel

Ihrer Pforte, durch die Gruft,

Ach, und riß die leichten Blätter

Ohne Schutz und ohne Retter

Sausend in die öde Luft.


Die Prophetin, unbekümmert

Um ihr Werk, vom Sturm zertrümmert,

Haschte keines je zurück.

Wer von ihr in bangen Nöthen

Trost gehofft und Trost gebeten,

Fluchte dann auf sein Geschick. 1


Weisheit läßt mit sich nicht scherzen;

Menschen, haltet fest im Herzen

Die Orakel der Vernunft.

Weh, wenn vor der Lüste Toben

Maß und Ordnung weggestoben!

Hoffet keine Wiederkunft.

Fußnoten

1 Im Göttinger Musen-Almanach 1789 folgen diese 4 Strophen:

So erzählt die fromme Sage,

So die Dichtung grauer Tage.

Klügler, spottet ihrer nicht!

Merket auf! Ich will sie deuten.

Mit der Fabel Dunkelheiten

Gatte sich der Wahrheit Licht.


Wie Sibyll' in Cuma's Höhlen,

Wohnt in edler Menschen Seelen

Himmlische Beschauungskraft.

Hoher Kunde wird der innen,

Der dem Gaukelspiel der Sinnen,

Ihr zu lauschen, sich entrafft.


Durch des Lebens tausend Irren,

Die des Wallers Fahrt verwirren,

Zeigt die Weisheit ihm die Bahn.

Mitten hin durch Klipp' und Brandung

Leuchtet ihm zu froher Landung

Ihre Fackel hell voran.


Glücklich steuert' er zu Lande,

Lös'te Leichtsinn nicht die Bande,

Die der Ernst den Lüsten flicht.

Dann kann nichts die Fackel schirmen.

Er vernimmt vor ihren Stürmen

Der Pilotin Stimme nicht. –


Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 179-181.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Cardenio und Celinde

Cardenio und Celinde

Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon