Fünftes Buch
Mai 1885 bis April 1886

Da die letzten Examina, insbesondere das dritte Theoretikum, das die Reihe abschloß, an einen Kandidaten von nur mäßigem Ehrgeiz, wie ich einer war, keine übergroßen Anforderungen stellten, war meine Zeit auch in jenen Maitagen nicht ausschließlich durch das Studium in Anspruch genommen; und es blieb mir, wie zu allerlei anderem, auch Muße genug zu den gewohnten Abendspaziergängen. Bei einer solchen Gelegenheit, zwei Tage vor dem letzten Rigorosum, geschah es, daß in einer Volksgartenallee ein junges Mädchen, Jüdin, mehr rassig als hübsch, höchst ungezwungen mit mir anknüpfte, indem sie im Vorübergehen meinen Namen flüsterte. Auf meine Frage, woher sie mich kenne, erhielt ich die Antwort, daß sie mich auf der Poliklinik gesehen habe, wohin sie eine leidende Freundin begleitet hätte; sie selbst stellte sich als angehende Schauspielerin vor und bewies mir ihr Talent schon bei unserem nächsten Beisammensein, indem sie Miene machte, sich im Bett mit ihren aufgelösten schwarzen Haaren zu erdrosseln, was nur zum geringeren Teil Hysterie und zum größeren Komödie war. Dieses unbequeme Betragen veranlaßte mich zu einem schleunigen Abbruch der Beziehungen, der übrigens dadurch erleichtert wurde, daß Pepita, wie sie sich nannte, als Choristin in ihr Sommerengagement an eine österreichische Provinzbühne abging. Von dort aus verfolgte sie mich anfangs mit leidenschaftlich-erpresserischen Briefen, indem sie mir unter anderem androhte, sich vor meiner Wohnungstüre zu erschießen, stand aber, nach Empfang einer kleinen, meinen Verhältnissen entsprechenden Geldsumme, von diesem düsteren Vorhaben ab und ließ mich bald darauf in einem vergnügteren Schreiben wissen, daß sie eine künstlerische Tournee als Tanzsängerin angetreten habe, worauf sie für mich endgültig verschollen blieb. Dieses Abenteuer, von[195] dem ich einen üblen Nachgeschmack zurückbehielt, steht kläglich und lächerlich zugleich am Eingang meiner Doktorjahre.

Die eigentlichen Doktorferien wurden in wechselvoller Weise zugebracht. Von einem kurzen Ausflug Ende Juni mit meinem Bruder nach Ungarn entsinne ich mich eines Rundgangs, den wir durch die Nachtlokale der Haupt- und Residenzstadt, und zwar unter sehr kundiger Leitung, unternahmen, so daß wir, von den niedersten zu immer höheren aufsteigend, einen fast polizeimäßigen Einblick in diese öffentlich-geheimen Winkel des Budapester Lebens gewannen. Von den Eindrücken jener Nacht ist mir am deutlichsten das Bild eines dunkeln, von hohen fensterlosen Mauern umstandenen Gärtchens in Erinnerung verblieben, wo sich Küchengerüche und allerlei süßliche Parfums wundersam vermischten und halbnackte Weiber mit unbedenklichen Herren in nicht gänzlich verschwiegenen Bosketts von Zeit zu Zeit verschwanden. Den nächsten Tag waren wir zu Besuch bei Verwandten am Plattensee und kehrten noch am gleichen Abend, weniger bereichert als abgehetzt, nach Wien zurück.

Die erste Hälfte des Juli verbrachten wir Kinder mit der Mama zu Reichenau im Thalhof, an derselben Stätte also, von der aus ich in nun längst verflossenen Knabenjahren, als Teufel verkleidet, mit meinem Freund Felix Sonnenthal die Eroberung der Welt in Angriff hatte nehmen wollen. Diesmal hätte ich mich mit einer geringeren Siegesbeute zufriedengegeben: eine hübsche, kokette Witwe entflammte mein Herz mehr zu Eifersucht als zu Liebe; und unvergeßlich bleibt mir der spöttische Weibchenblick, mit dem Frau Betty, in Gesellschaft meines von mir als begünstigt angesehenen Bruders, aus dem Walde zurückkehrend den schmachtenden Liebhaber begrüßte, der die Spaziergänger auf einer Bank in der Nähe des Hauses, ein Buch in der Hand, mit qualvoller Ungeduld erwartet hatte. Ich selbst war mir des eingebildeten Zwangs-, ja Krankhaften meiner Neigung völlig bewußt, ohne daß diese Einsicht zur Linderung meiner Pein im geringsten beigetragen hätte.

Während unseres Reichenauer Aufenthaltes erkrankte meine Schwester an einer Rippenfellentzündung, die auch mein Vater, sowenig geneigt er war, ernstere Erkrankungen in seiner näheren Umgebung und gar in der eigenen Familie nur für möglich zu halten, notgedrungen als vorhanden feststellen mußte. Der Fall nahm einen leichten Verlauf, und da die rauhe Luft, die[196] abends aus der zum Schneeberg führenden Talenge geweht kam, der Rekonvaleszentin nicht zuträglich war, reisten wir, sobald es anging, nach Wien zurück. Meine Leidenschaft für Frau Betty begann schon in der Eisenbahn abzuflauen und verschwand daheim binnen kürzester Frist völlig; während ich einer süßen Speise, die sie sich täglich zu bestellen gepflegt, Schokoladetorte mit Erdbeeren und Obersschaum, und der wir den Namen der anmutigen Näscherin beigelegt hatten, eine dauernde Zärtlichkeit bewahrte.

Der ungarische Ausflug und der Reichenauer Aufenthalt hatten beide nur Auftakte zu der eigentlichen großen Ferial- und Doktorreise bedeutet, die ich Mitte August in Gesellschaft eines noch jugendlichen Freundes, eines einstigen Gymnasialkollegen meines Bruders, antreten durfte. Max Weinberg war der Sohn eines reichen Rumänen, der als Witwer, Privat- und Lebemann, sich vor Jahren mit seinen Kindern in Wien ansässig gemacht hatte; ein gutmütiger, gefälliger, nicht übermäßig kluger Junge von zerstreut-hastigem Wesen und für harmlose Späße sehr eingenommen, die er, ob nun als Spaßmacher in eigener Person oder als Publikum, mit einem törichten, fast schwachsinnigen Lachen zu begleiten pflegte. Daß ich gerade ihn zu meinem Reisegefährten erkoren, lag wohl, sowenig wählerisch ich damals in meinem Umgang war, hauptsächlich daran, daß ihm von seinem Vater die nötigen Geldmittel für die Reise zur Verfügung gestellt werden konnten. Übrigens war er mir mit all seinen Schwächen gerade in seiner Harmlosigkeit ein keineswegs unsympathischer Begleiter, und auf der vierzehntägigen Reise, die uns von Ischl aus über Innsbruck, Zürich, Luzern, den Sankt Gotthard nach den italienischen Seen und nach Mailand führte, vertrugen wir uns aufs beste. In Mailand traf ich verabredetermaßen mit den Meinigen zusammen; die Freude des Wiedersehens war dadurch etwas getrübt, daß ich meinen Vater sogleich um einige hundert Francs angehen mußte, die ich im Luzerner Kasino beim Pferdchenspiel verloren hatte und Max schuldig geworden war, den das Glück mehr begünstigt hatte als mich.

Von Mailand ging es über Innsbruck nach Ischl und am letzten Augusttag nach Wien zurück.

Hier traf ich Anfang September im Allgemeinen Krankenhause als Aspirant ein; zunächst auf der internen Abteilung[197] des Primarius Standthartner, der sich in der Wiener Gesellschaft als Musikfreund und Wagner-Enthusiast (Wagner hatte öfters bei ihm in Wien gewohnt) kaum eines geringeren Ansehens erfreute, denn als Arzt. Der Pflichtenkreis eines Aspiranten war ziemlich eng begrenzt, und ich war nicht dazu angelegt, mich auch nur der erlaubtesten Überschreitungen schuldig zu machen. Hatte ich an der Morgenvisite mit größerer oder geringerer Aufmerksamkeit teilgenommen und, soweit es der Dienst erforderte, Krankengeschichten aufgezeichnet und ergänzt, so begab ich mich meistens ins Kaffeehaus, um Zeitungen zu lesen oder mit irgendeinem Bekannten, damals meist mit einem älteren Herrn namens Wolf, eine Kegelpartie auf dem Billard zu absolvieren unter Bevorzugung des sogenannten Kalakaux, eines Spiels, das durch seine vertrackten Regeln meiner Hazardfreudigkeit am ehesten entgegenkam. Um die Mittagsstunde verfügte ich mich auf die Poliklinik, wo ich bei dem Nervenpathologen, Professor Benedikt, hospitierte, der, ebenso gelehrt als von sich eingenommen, in einem seltsam leiernden Tone seine anregenden, anekdotisch gewürzten, zuweilen mehr phantasievollen, als wissenschaftlich fundierten Vorlesungen abhielt. Benedikt gehörte zu meines Vaters intimsten und, was ja nicht immer dasselbe bedeutet, treuesten Freunden, deren er weniger besaß, als er wußte oder sich eingestehen mochte. Die Poliklinik selbst aber war teilweise die Schöpfung und jedenfalls das große Erlebnis meines Vaters; sie war das Unternehmen und zugleich das Prinzip, an dem sich sein tiefstes Wesen entwickelte, ausdrückte und durchsetzte. Und an dieser Stelle meiner Aufzeichnungen, wo man mich selbst in bescheidener Nebenrolle die Schwelle eines Hauses überschreiten sieht, das meinem Vater so viel und auch mir in einer gewissen Periode meines Lebens nicht wenig bedeutete, ziemt es sich wohl, mit ein paar Worten vorerst der Anfänge dieses Institutes zu gedenken. In der hier folgenden Darstellung sind zum Teil Artikel meines Vaters und seines Kollegen Prof. Reuss benützt worden.

Die Poliklinik wurde im Jahre 1872 von zwölf jungen Dozenten der Medizin, darunter meinem Vater, gegründet, die sich für ihre Lehrtätigkeit, um dem mißlichen Gastverhältnis an den staatlichen Kliniken zu entgehen, eine eigene Stätte des Lehrens, Lernens und Heilens zu schaffen wünschten. In einem alten Hause der Wipplingerstraße mieteten sie eine Hofwohnung,[198] aus der sie schon zwei Jahre später, mit Rücksicht auf den Andrang der Kranken und die steigende Hörerzahl, in ein geräumigeres Lokal in der Oppolzergasse übersiedelten. Die Behörden zeigten sich entgegenkommend, an Gönnern fehlte es nicht; und da sich überdies ein Prinz des kaiserlichen Hauses, der treffliche Erzherzog Rainer, entschlossen hatte, das Protektorat des Institutes zu übernehmen, so schienen die günstigsten Bedingungen für dessen ungestörte und gedeihliche Fortentwicklung gegeben. Da begannen plötzlich, vor allem aus den Kreisen der praktischen Ärzte, die damals ökonomisch unter den Nachwirkungen der Börsenkatastrophe von 1873 zu leiden hatten, Klagen, Anklagen, Verdächtigungen, Verleumdungen laut zu werden, die allmälig durch publizistische Beihilfe faktiöser Art den Charakter einer regelrechten, in ihren Mitteln recht unbedenklichen Hetze annahmen. Die Poliklinik, so hieß es, bedeute den Ruin der praktischen Ärzte, da in ihren Räumen auch bemittelte Patienten behandelt würden; sie sei im Grunde nichts als eine Reklameanstalt für die Dozenten, von denen sie gegründet worden; die scheinbar offiziellen Angaben über Zahl der Kranken und Hörer seien gefälscht, überdies bedeute diese im Mittelpunkt der Stadt gelegene Sammelstelle von Leidenden als vorbestimmter Epidemienherd eine ernste Gefahr für den Gesundheitszustand der ganzen Stadt. Man schritt bei den Behörden wegen Schließung des Institutes ein, Subventionen wurden entzogen, Gönner fielen ab; und endlich begehrte die Poliklinik selbst, die, schon gewillt, sich aufzulösen, vom Erzherzog Rainer zu weiterem Ausharren veranlaßt worden war, eine behördliche Untersuchung der gerügten Mißstände. Wie natürlich, fiel diese durchaus zugunsten der verdächtigen Anstalt aus. Die Gemüter beruhigten sich, die Poliklinik gedieh immer mehr zu einem unschätzbaren Bestandteil der medizinischen Fakultät sowohl in akademischer als in praktisch-ärztlicher Beziehung; und im Jahre 1880 bezog sie ein von einem ihrer Mitglieder, dem Kinderarzt Professor Monti, für sie erbautes Privathaus in der Schwarzspanierstraße. Während jener Kämpfe war es vor allem mein Vater gewesen, der die Sache des Institutes, dessen Mitbegründer und Vorstandsmitglied er war, als Redakteur der »Medizinischen Presse« der Öffentlichkeit gegenüber vornehm, gewandt und temperamentvoll vertreten hatte; und es sollte nicht lange dauern, daß er sich genötigt sah, die Fehde von[199] neuem aufzunehmen; diesmal nicht nur gegen den immerhin entschuldbaren Brotneid schlechtgestellter praktischer Ärzte und gegen die abergläubische Ängstlichkeit einfältiger Seelen, also gegen Anschuldigungen, die schon vor den Erwägungen der Vernunft, wie erst vor einer behördlichen Untersuchung (oder wäre vielleicht die umgekehrte Reihenfolge die richtigere?) in nichts vergehen mußten, sondern gegen kleinliche, erbärmliche Intrigen, die im Professorenkollegium selbst ausgeheckt worden waren, dessen Stellungnahme gegenüber den jungen poliklinischen Dozenten schon zur Zeit jener früheren Kämpfe keine durchaus freundliche oder auch nur ehrliche gewesen war. Einige von den erbgesessenen Herren hatten das immer stolzere Aufblühen des Institutes, die wachsende Berühmtheit einiger dort wirkender außerordentlicher und Titularprofessoren und ganz besonders deren um sich greifende Praxis seit langem mit Mißgunst betrachtet; nun endlich entschloß man sich, sozusagen offen gegen die gefährliche Konkurrenz aufzutreten, und nach längeren Debatten wurde in einer Sitzung eine Resolution gefaßt, des Inhalts, daß erstens die Vereinigung der Polikliniker in die Funktionen des akademischen Senates eingreife, indem sie das Vorlesungsprogramm durch ihre eigene (poliklinische) Direktion habe ankündigen lassen, daß sie zweitens (aus irgendwelchen schwerverständlichen formalen Gründen) überhaupt gar nicht das Recht habe, sich Poliklinik zu nennen; – und endlich wurde, gewissermaßen offiziell, die Befürchtung ausgesprochen, daß sich aus der Poliklinik, die ja sogar (man denke!) die Gründung eines Spitals anstrebe, eine zweite »freie« Universität entwickeln könnte, was unter keinen Umständen geduldet werden durfte. Aus der unglaublichen, gleichsam stammelnden Ungeschicklichkeit dieser Anklagen, von denen die letzte eigentlich einer empörten Anerkennung gleichkam, war ohneweiters zu ersehen, daß sich geschicktere eben nicht vorbringen ließen, und daß die wirklichen Ursachen für die latente und nun akut gewordene Feindseligkeit des Kollegiums gegen die Poliklinik solche waren, die man weder Feinden noch Freunden, ja, wenn es irgend angeht, auch sich selber nicht gerne eingestehen mag. Mein Vater – in einer vorzüglichen Entgegnung, die Anfang 1886 in der »Medizinischen Presse« erschien – deutet jene mehr oder minder verborgenen oder verleugneten Motive, insbesondere jenes, das sich bei jedem Konkurrenzkampf,[200] heute noch wie damals, mit einer oft elementaren Schamlosigkeit geltend zu machen pflegt, am Schluß seiner Ausführungen leise an, wenn es von »gewissen Strömungen, die mitunter auch die intelligentesten Kreise mitreißen«, und »von dem Geist der Unduldsamkeit« spricht, »der auch an der medizinischen Fakultät immer weiter um sich greife, seit der Geist Rokitanskys (des großen pathologischen Anatomen) nicht mehr über ihr walte«. Es sei hier noch bemerkt, daß Theodor Billroth der einzige war, der in jener Fakultätssitzung gegen die Resolution aufgetreten war und sich entschieden für die Poliklinik eingesetzt hatte; – neben ihm, wie übrigens selbstverständlich, Benedikt, der gerade damals als der normierte Vertreter der außerordentlichen Professoren im Kollegium saß.

In die Räume der Poliklinik selbst war jener Geist der Unduldsamkeit bisher noch nicht eingedrungen; Juden und Christen (die letzteren befanden sich allerdings in der Minderzahl) wirkten vorläufig einträchtig zusammen und hielten sich geschlossen gegen ihre Widersacher, die auch diesmal gegen das Institut als solches Wesentliches nicht auszurichten vermocht hatten und sich weiterhin damit begnügen mußten, von Fall zu Fall gegen den einzelnen zu intrigieren, der ihnen just im Wege war.

Mein Vater war nicht nur journalistisch-polemisch, sondern im Verein mit einigen andern (die sich später freilich zum Teil gegen ihn stellen sollten) auch gesellschaftlich werbend für das Institut unermüdlich tätig, das er immer mehr als seine ureigenste Schöpfung empfand und wohl auch empfinden durfte.

Zu der Zeit, von der hier die Rede ist, Mitte der achtziger Jahre, stand mein Vater auf der Höhe seiner Wirksamkeit. Als einer der ersten Kehlkopfspezialisten übte er seine Praxis nach wie vor hauptsächlich in Sänger- und Schauspielerkreisen aus; aber auch von Mitgliedern des reicheren und des mittleren Bürgerstands, der Aristokratie, des Hofes, selbst von fremden Fürstlichkeiten wurde er gern als Konsiliarius herangezogen, war überdies in zahlreichen Familien als Hausarzt gern gesehen und, wie man in Hinblick auf seine angenehme, meist leicht ironisch gefärbte Plauderkunst sagen darf, auch gern gehört. Seine außerordentliche Beliebtheit und Popularität verdankte er, außer der manchmal bezwingenden Liebenswürdigkeit seines Wesens, der beruhigenden Wirkung, die von seiner[201] optimistischen Grundstimmung ausging, seiner Gutmütigkeit, die beinahe schon Güte war und seiner Noblesse in Geldsachen, von der manche seiner Patienten, besonders aus Künstlerkreisen, in übertriebener Weise zu profitieren verstanden. Inmitten seiner praktisch-ärztlichen vernachlässigte er keineswegs seine wissenschaftlich-schriftstellerische Tätigkeit und veröffentlichte zahlreiche, kurzgehaltene Aufsätze, meist kasuistischen Inhalts, die von seinem diagnostischen Scharfblick, seiner therapeutischen Einsicht, der Raschheit seines Urteils in einem flüssigen und klaren Stil Zeugnis gaben. Durfte man ihn auch nicht als einen tiefschürfenden Forscher bezeichnen, so mußte er doch als ein vorzüglicher Beobachter und Zusammenfasser gelten; wies er zwar keinen völlig neuen Weg, so hielt er sich doch hart hinter denen, die als Führer voranschritten und war vielleicht manchmal – mit der Agilität und Leichtigkeit seiner glücklichen Natur – so flink hinter neuen Errungenschaften her, als käme es ihm mehr darauf an, seine Flinkheit als den Wert der neuen Errungenschaften zu erweisen.

Ich selbst hatte früh die Empfindung, daß er weder als Gelehrter noch als Arzt, bei allen äußeren verdienten Ehren, in absolutem Sinne so weit gelangt war, als es ihm bei völliger Entfaltung seiner reichen Fähigkeiten wohl hätte beschieden sein können. Was ihn an einer solchen Entfaltung und damit an der Hervorbringung stärkster Leistungen und am Aufstieg zu wirklicher Größe hinderte, war der Mangel an jenem höchsten Ernst, dessen Voraussetzungen Sachlichkeit, Unbeirrbarkeit und Geduld heißen. Von allen diesen Eigenschaften besaß er wohl etwas, aber nicht genug; hatte sie von Fall zu Fall, aber nicht eingewurzelt als unveränderliche Bestandteile seiner Persönlichkeit. Daher haftete seiner Tätigkeit, vom strengsten Standpunkt aus gesehen, zuweilen etwas Oberflächliches, seinem Wesen gelegentlich etwas Frivoles an. Mein Eindruck, daß er es manchmal mit Angelegenheiten der Desinfektion, zum Beispiel dem Reinigen der Spiegel nach Gebrauch und dergleichen, nicht so genau nahm, als ich es für geboten erachtete, lag vielleicht daran, daß er noch einer älteren, ich schon der jüngeren, in antiseptischen Prinzipien aufgewachsenen Schule angehörte; nicht vereinbarlich mit den Begriffen von ärztlicher Diskretion erschien mir seine Neigung, das Ordinationsprotokoll, in dem neben den Namen der Patienten die Diagnosen vermerkt standen,[202] unversperrt auf dem Schreibtisch liegen zu lassen oder auch (was ich übrigens ein einziges Mal miterlebte) die ihm als behandelnden Arzt bekanntgewordene sexuelle Minderwertigkeit eines Patienten einer koketten jungen Frau mit scherzhaften Worten anzudeuten, der jener Patient den Hof machte. Sehr charakteristisch war mir auch seine Haltung, als ich selbst ihm einmal eine Sache mitzuteilen hatte, an deren Geheimhaltung mir gelegen war und ich ihm ein hierauf bezügliches Ehrenwort abforderte. Er zeigte sich nicht nur ablehnend, sondern sogar ärgerlich; nicht so sehr, weil er sich durch mein Mißtrauen etwa verletzt gefühlt hätte, als vielmehr darum, weil er mein Ansinnen und, wie ich mir nicht verhehlen konnte, Diskretion und Ehrenworte im allgemeinen etwas abgeschmackt zu finden nicht umhin konnte. Daß er schließlich von einer gewissen Eitelkeit nicht ganz frei war, darf einem Mann kaum als Fehler angerechnet werden, der es in seinem Beruf zu einem so glänzenden Namen, in der Gesellschaft zu einer so bevorzugten Stellung gebracht hatte wie er, und sich auf der Höhe seines Lebens mit Stolz sagen durfte, daß er aus engen, dürftigen Verhältnissen hervorgegangen, alles, was er erreicht, nur seinem Talent, seinem Fleiß und seiner Energie zu verdanken hatte. Ein Teil seiner Klientel, besonders aus den »höheren Kreisen«, sollte sich wohl in den nächsten Jahren verlieren, und auch der Glanz seines Namens trübte sich um ein weniges, woran nicht nur das Nachdrängen erfolgreicherer jüngerer Spezialärzte, sondern außer den allgemeinen Gesetzen, die über dem Alternden stehen, das Überhandnehmen jener Strömungen Schuld trug, von denen sich, wie es in jener oben angeführten Streitschrift hieß, auch die »intelligentesten Kreise öfter mitreißen lassen«, – wenn sie nicht gar vorziehen, wie ich hinzufügen möchte, diese Strömung mit tüchtigen Ruderschlägen zu fördern.

Schon vor Erlangung meiner Doktorwürde hatte ich öfters Gelegenheit gehabt, meinen Vater mitten in seiner ärztlichen Tätigkeit auf seiner poliklinischen Abteilung zu beobachten, hatte ihn im Verkehr mit seinen zahlreichen in- und fremdländischen, hauptsächlich englischen und amerikanischen Kursisten und mit seinen Patienten gesehen, die hier durchaus den unbemittelten Kreisen angehörten, und ihn als vorzüglichen Lehrer und als ebenso tüchtigen wie menschenfreundlichen Arzt kennengelernt. Nun, da ich promoviert war, durfte ich ihn zuweilen[203] auch in der Hausordination vertreten. Mit meinem Wissen – von meiner Erfahrung gar nicht zu reden – war es allerdings nicht zum besten bestellt; aber ich wußte zum mindesten in jedem Fall, wann ich verpflichtet war, die Verantwortung an eine höhere Instanz zu übertragen; und auch die Gewandtheit meiner Lebensformen ließ wenig zu wünschen übrig, wenn ich es auch an Liebenswürdigkeit, zumindest an der fast unerschütterlichen, wie sie meinem Vater zu Gebote stand, mit ihm keineswegs aufzunehmen vermochte. Insbesondere wenn er mich – was damals noch nicht häufig geschah – in eines seiner »Häuser« als Vertreter entsandte, lag mir vielleicht allzuviel daran, die Leute merken zu lassen, daß ich ferne davon war, mich aufdrängen zu wollen; und meine Zurückhaltung mochte beinahe wie Hochmut wirken, besonders wenn ich zu vermuten Ursache hatte, daß man mich eben nur als den Sohn meines Vaters mit Herablassung oder gar mit leiser Ironie zu empfangen und zu behandeln beliebte.

Vorerst hielt sich diese meine privatärztliche Tätigkeit natürlich in den engsten Grenzen, und genaugenommen führte ich eigentlich mein Studentenleben weiter – ein junger Mann aus gutem Hause, der ein paar Stunden des Tags in Spital und Poliklinik oder auch im Laboratorium für pathologische Histologie beschäftigt war, fleißig Theater, Konzerte und Gesellschaften besuchte, einen allzu großen Teil seiner freien Zeit im Kaffeehaus mit Freunden hinbrachte und immer nur von seinem Taschengeld lebte, mit dem er selbstverständlich niemals auskam.

Diese Freunde schieden sich, wie das immer der Fall gewesen war, in einzelne, nicht ganz scharf umrissene, öfters ineinander verfließende Gruppen. Mit Richard Tausenau hatte ich mich neuerdings intimer an einen unserer einstigen Gymnasialkollegen angeschlossen, Louis Friedmann, der zusammen mit seinem jüngeren Bruder Max die Maschinenfabrik seines verstorbenen Vaters, des liberalen Abgeordneten Alexander Friedmann, leitete, während der jüngste Bruder Emil, sonderlingshaft und großstadtscheu, von Arbeit und Geschäft abgewandt, in Baden bei Wien lebte und seine Tage mit Philosophiestudien und Schachspiel hinbrachte. Louis und Max aber führten am Tabor im eigenen, der Fabrik benachbarten Hause eine Art von Junggesellenwirtschaft; ich erinnere mich wenigstens kaum,[204] bei ihnen je ihrer Mutter begegnet zu sein, die ein anderes Stockwerk bewohnte und sich bald wieder verheiratete oder vielleicht schon damals wieder verheiratet hatte. Sowohl Louis als Max waren sehr tüchtig und fleißig in Beruf und Geschäft; Louis vorwiegend nach der technisch-erfinderischen, Max nach der administrativ-praktischen Seite hin veranlagt; dieser von etwas vorsichtigerer, jener von unternehmenderer Natur, beide ebenso klug als korrekt, so daß trotz gelegentlicher Differenzen zwischen ihnen die Fabrik unter ihrer gemeinsamen Führung bald einen beträchtlichen Aufschwung nahm und sich in ihrem Spezialgebiet, der Erzeugung von Lokomotivinjektoren, zu einer der bedeutendsten in Österreich-Ungarn entwickelte. Beide von einem jüdischen Vater und einer christlichen Mutter stammend, waren auch körperlich sehr wohlgebildet, insbesondere Louis war ein auffallend hübscher Junge, eben mittelgroß, schlank, von anmutsvoller Lässigkeit der Bewegungen, immer gut angezogen und sportlich ungewöhnlich begabt. Als Alpinist erfreute er sich eines Rufs weit über die Grenzen seines Vaterlandes, war vielfach preisgekrönter Eisläufer und auch ein Fechter von Rang, wenn er freilich in diesem Fach seinen jüngeren Bruder nicht erreichte, der hier als Meister galt. Man kann sich denken, wie solche Erscheinungen, insbesondere die des älteren Bruders, in der Schneidigkeit, Eleganz und Wohlhabenheit ohne jede Protzerei und Geckenhaftigkeit sich aufs angenehmste vereinigten, dem Geschmack meines Freundes Richard behagen mußten; aber auch ich verstand mich mit den Brüdern, vor allem mit Louis, aufs allerbeste. Schon im Winter vorher hatten wir manche vergnügte Abende miteinander verlebt, und einen von diesen, an dem Richard sowohl wie Louis je ein hübsches junges Ding zur Seite hatten, aber auch ich als Elefant besser wegkam, als es dergleichen unglückseligen Tieren sonst vergönnt zu sein pflegt, habe ich in einem humoristischen Gedicht aufbewahrt.

Im Winter 85/86 fügte es sich nun, daß Richard und ich beinahe allsonntäglich in den späteren Nachmittagsstunden bei Friedmanns zusammentrafen, um nach etlichem Geplauder in einem Stadtrestaurant zu soupieren und nachher ein Vergnügungslokal, etwa eine Singspielhalle oder auch nur ein Kaffeehaus, zu besuchen, wo eine Billardpartie den Beschluß des Abends zu machen pflegte. Vom Hazardspiel hielten sich beide[205] Brüder, besonders Louis, möglichst fern; nicht nur aus Gleichgültigkeit, sondern auch aus Klugheit, da sie als die einzigen Besitzenden in unserem Kreise gegenüber ihren Partnern in offenbarem Nachteil gewesen wären. Außer Richard und mir fand sich an jenen Sonntagnachmittagen am häufigsten ein blonder Geologe namens Geyer ein, ein junger Mensch von knappen Einkünften, der auch etwaigen Ansprüchen an Eleganz nur in bescheidenstem Ausmaße genügen konnte, immer wohlgelaunt, von unbefangenstem und dabei tadellosem Betragen, verläßlich und ohne Prätentionen, einer von den seltenen Kameraden, bei denen man sicher sein konnte, daß er niemals einen Kreuzer Geld schuldig bleiben und sich nie einer Taktlosigkeit schuldig machen würde. Zwischen ihm und Louis Friedmann bestand eine jener Freundschaften, die in ihrer völligen materiellen und seelischen Uneigennützigkeit beiden zur Ehre gereichen und in weiterem Umkreis eine reine und reinigende Atmosphäre verbreiten. – Karl Diener, der spätere Professor der Geologie an der Wiener Universität, der sich auch manchmal am Tabor sehen ließ, wirkte, trotz überragenden Verstandes, in seiner Schärfe und Trockenheit auf mich damals nicht ebenso erfreulich wie sein Berufskollege Geyer. Eine unbeträchtlichere, aber beliebtere Figur in unserem Kreise war unser einstiger Gymnasialkollege Hermann Eissler, in dessen gastfreundlichem Haus wir drei, Richard, Louis und ich, früher einmal, hauptsächlich um seiner kaum hübschen, aber nicht uninteressanten ältesten Schwester Laura willen, verkehrt hatten, – ein komischer, kleiner Kauz, der ebenso gern selber Witze machte, als er sich die freundschaftlichen Spöttereien der anderen gefallen ließ. Insbesondere seine Beziehung zu der Gouvernante seiner Schwester wurde höchst humoristisch aufgefaßt und besprochen, ohne daß der detaillierenden Aufrichtigkeit seiner Berichte und unseren unbedenklichen Randbemerkungen dazu, im Augenblick selbst oder auch nur in der Erinnerung, etwas Peinliches anhaften konnte: von einer so unbedingt alles ins Harmlose auflösenden Atmosphäre war der gutmütige, häßliche Krauskopf umgeben, den wir nach einer von ihm gern gebrauchten Redewendung, mit der er auch, wie zum Motto, seine Photographie unterzeichnete, »Halt Ignaz« zu nennen pflegten.

Zuweilen gesellten sich auch noch andere junge Leute zu uns,[206] Kameraden aus Louis Friedmanns Freiwilligenjahr oder Sportgenossen, wie der junge Diamantidi, der Sohn des berühmten Bergsteigers, und der Kavallerieleutnant Milanich; aber wie und wo immer sich die Gesellschaft zusammenfand, ihre Zusammenkünfte ermangelten bei allem gelegentlichen Übermut jedes lebemännischen oder gar aufhauerischen Charakters; wie auch die Weiblichkeit nur manchmal und dann ausschließlich durch Louis' Geliebte, das schlanke, sanfte, schöne Fräulein Valeska vertreten war. Aber Louis, der, ohne eigentliche Leidenschaft und durchaus egoistisch, die Liebe damals bestenfalls als einen hübschen Zeitvertreib behandelte, um erst später als verheirateter Mann sich zum Frauensammler und Berufseroberer, kurz, auch auf erotischem Gebiet sich zum Sportsmann heranzubilden, war seiner Freundin bereits etwas müde geworden und versuchte vorerst, sie durch Kühle und Vernachlässigung, ohne jede Anwendung von Brutalität, loszuwerden. Eines Wintersonntags, als wir eben vom Tabor aufbrachen, um, nach unserer Art langsam durch die Straßen flanierend, dem Leidinger, unserem bevorzugten Gasthaus, zuzustreben, erschien ungerufen Fräulein Valeska, schön und sanft wie immer. Doch ihre in Demut zur Schau getragene Liebe war dazu angetan, jeden anderen eher zu rühren als ihren gelangweilten Liebhaber, der ihr in seiner höflich-ablehnenden, liebenswürdig-schnöden Art, mit seiner zugleich hohen und weichen, etwas verletzenden und etwas verführerischen Stimme zu verstehen gab, daß ihm für heute abend ihre Gesellschaft nicht erwünscht sei. Sie folgte uns auf die Straße; Louis, ohne sich im geringsten um die Geliebte zu kümmern, ging mit den andern voraus, Max und ich blieben mit Valeska zurück, die nur mit Mühe ihre Tränen unterdrückte und uns ein bißchen leid tat. Ob der Plan, der noch am gleichen Abend zur Ausführung gebracht wurde, mit Vorbedacht von uns ausgeheckt war oder ob er einem zufälligen Zusammentreffen von Umständen seine Entstehung verdankte, weiß ich nicht mehr: sicher ist nur, daß Max und ich Fräulein Valeska mit einem gutaussehenden Fiakerkutscher bei Leidinger in einem Cabinet particulier zu plazieren wußten, demjenigen gegenüber, in dem unsere ganze Gesellschaft soupierte, daß einer von uns, scheinbar zögernd und überrascht, Louis von der sonderbaren Nachbarschaft wie von einer Entdeckung verständigte, die wir im Vorbeigehen an der für eine Sekunde lang zufällig[207] offenstehenden Tür gemacht; – und daß bald darauf, entweder von uns veranlaßt oder durch Louis selbst hereinbeschieden, Valeska den abgeschlossenen Raum betrat, wo wir andern tafelten. Ein paar Minuten nach ihr stürzte wie ein Rasender der Kutscher herein, den man am Ende auch für einen vorstädtischen Hausherrnsohn halten konnte, schlug, getreu der von uns Verschwörern erteilten Ordre, einen mächtigen Skandal und stellte sich an, als wollte er sich seiner Soupergenossin mit Gewalt wieder bemächtigen. Nun war es köstlich anzusehen, wie Louis in all seinem beleidigten Männerstolz den unwürdigen Rivalen mit diabolischem Hohn abzutun, Valeska mit unsäglicher Verachtung zu strafen und den Ironisch-Überlegenen so lange zu agieren suchte, bis er, wahrscheinlich durch das unzeitige Gelächter von uns Eingeweihten, zu merken anfing, daß man ihn zum besten hatte, worauf der Spaß ohne richtigen Schlußeffekt verpuffte. Er verlief folgenlos in jedem Sinn. Denn Valeska wandelte nicht nur ohne den Fiaker, sondern auch ohne Louis heimwärts, der das Verhältnis mit ihr immerhin noch durch ein paar Monate weiterführte. –

Louis war zu jener Zeit, ungeachtet seiner Abstammung, überzeugter Antisemit, so zwar, daß er beschlossen hatte, ledig oder doch kinderlos zu bleiben, um das verhaßte jüdische Blut nicht fortzupflanzen, das vom Vater her durch seine Adern floß. Es bereitete mir, der sich über dieses Thema häufig mit ihm auseinandergesetzt hatte, eine gewisse Genugtuung, als ich einmal in einem Eisenbahncoupé, scheinbar schlafend, das Gespräch einiger Alpinisten belauschte, die sich über ihren nicht anwesenden Klubkollegen unterhielten und von denen einer, bei aller Anerkennung der Friedmannischen Leistungen auf touristisch-sportlichem Gebiet, seiner Antipathie gegen ihn mit der prinzipiellen Bemerkung Ausdruck verlieh, daß er die Juden nun einmal nicht leiden könne. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich Louis Friedmann, weder damals noch später, je von diesem Erlebnis Mitteilung gemacht habe.

Eine andere Freundesgruppe, ich nehme das Wort in seiner leichtesten und leersten Bedeutung, stellten die Ischler Sommerbekanntschaften vor. Was hier eine Art von Gemeinsamkeit vortäuschte, war weniger Naturfreude und Wanderlust, die im ganzen mit kleinen Ausflügen und Spaziergängen ihr Auslangen fand, sondern wieder einmal das leidige Hazardspiel, zu[208] dem sich auf dem Land noch mehr Muße und Gelegenheit ergab als in Wien. Unter diesen »Makao«-und »Poker«-Gefährten war es vor allem ein gewisser Benvenisti, mit dem ich auch in der Stadt öfters zusammentraf. Chemiker von Beruf, aus wohlhabender spaniolischer Familie, der nach dem kürzlich erfolgten Tod seines Vaters mit Mutter und mit Schwestern zusammenlebte. Gutmütig, beschränkt und liebenswürdig, hielt er seine Bekannten gerne frei, besonders wenn es Kavallerieoffiziere und Sportsleute waren, durch deren Umgang er sich geschmeichelt fühlte, und verschwendete überhaupt sein väterliches Erbteil in der törichtesten Weise. Ich erinnere mich eines Gelages nach einem Rennen bei Sacher, wo ich, verspätet erscheinend, meinen Freund schon in ziemlich betrunkenem Zustand unter Zechgenossen antraf, die seiner Geliebten, einer hübschen Blondine mit Namen Heli, in höchst ungezwungener Weise schön taten, was er, obwohl innerlich kaum sehr erbaut, sich mit seinem gewohnten albernen Lachen gefallen ließ. Ich selbst, der in diesem Kreise außer Benvenisti kaum einen näheren Bekannten und gewiß keinen Freund hatte und, wie an dem kühlen Empfang zu merken war, der mir zuteil wurde, heute ganz besonders ungern gesehen war, entfernte mich, als das »Baccarat« mit hohen Einsätzen begann, an dem ich mich ohnedies nicht hätte beteiligen können und bei dem Benvenisti, Nixl genannt, gewiß auch heute, wie immer, bestimmt war, die »Wurzen« abzugeben. Das Trinken hatte er sich kaum aus angeborener Neigung, sondern vielmehr aus Snobismus angewöhnt und übertrieb es eben darum ins Maßlose, so daß er einmal im halben Delirium, als ihn der Hausbesorger zu lange hatte warten lassen, im Flur mit seinem Revolver herumschoß, was ihn beinahe mit der Polizei in Konflikt gebracht hätte. Kam der Katzenjammer über ihn, so zeigte er sich meinen Mahnungen und Warnungen zugänglich und gelobte Besserung, um meistens schon nach wenigen Stunden seine guten Vorsätze wieder in den Wind zu schlagen.

Eines Tages, auf Zureden seines Vormunds oder seiner Mutter, entschloß er sich, sein kostspieliges und sinnloses Wiener Leben aufzugeben, in einer chemischen Fabrik zu Lodz eine Stellung anzunehmen und sich Heli so bald als möglich nachkommen zu lassen. Mir, für den er eine besondere Sympathie hegte, die ich aus unerklärlichen Gründen erwiderte, überließ[209] er für die nur kurz bemessene Dauer der Trennungszeit die Sorge um Heli. Schon vorher hatte ich öfters mit ihm zusammen Heli besucht, die in der Rotenturmstraße bei ihrer Mutter ein sehr bescheidenes Zimmer bewohnte, und war manchmal Zeuge von Zwistigkeiten geworden, im Verlauf deren Nixl es angemessen fand, seine ungebärdige Geliebte zu erinnern, aus welcher Welt, ja aus welchem Hause er sie geholt und zu sich emporgezogen habe. Sie war ein sehr hübsches, graziöses, grundverdorbenes Geschöpf, die geborene Kokotte; und während Nixl in Lodz sich aufhielt und ich öfter als unumgänglich nötig in der Rotenturmstraße vorsprach, mich nach dem Befinden meiner Schutzbefohlenen zu erkundigen, lag es nicht eben an ihren Grundsätzen und kaum an den meinen, sondern nur an einer, durch mir bekannte Tatsachen wohlbegründeten Vorsicht meinerseits, daß ich es jedesmal für richtig hielt, mich im letzten oder vorletzten Moment von ihr zu verabschieden. Kaum vierzehn Tage, nachdem Nixl Wien verlassen, sandte er mir eine Geldsumme mit der Weisung, für Heli allerlei einzukaufen, was sie zur Reise nach Lodz und zum Aufenthalt dort benötige, sie in den Waggon zu setzen und so in die Arme ihres sehnsüchtigen Liebhabers zu spedieren. Da Heli aber nicht die geringste Lust zeigte, sich spedieren zu lassen, entschloß sich Nixl, sie persönlich abzuholen, und ein Telegramm von ihm ersuchte mich, ihn zu einer bestimmten Stunde auf dem Nordbahnhof mit Heli zu erwarten. Wir waren beide pünktlich zur Stelle, sie aber, statt den Geliebten freudig oder doch wenigstens höflich willkommen zu heißen, benahm sich ihm gegenüber von dem Augenblick an, da er das Coupé verließ, im Wagen und schließlich zu Hause so übellaunig und unwirsch, behandelte mich dagegen mit so absichtsvoller, ja verdachterregender Freundlichkeit, daß Nixl mit einem immer verdutzteren und unglücklicheren Gesicht dasaß und ich mich endlich in einem unbelauschten Moment veranlaßt sah, ihm ungefragt zu versichern, ich verstünde Helis Benehmen sowenig als er selbst; und es sei während seiner Abwesenheit zwischen Heli und mir nichts von dem vorgefallen, was er offenbar vermuten mußte. Er erklärte, daß er in mich und meine Worte keine Zweifel setze, und reiste wenige Tage später in Helis Begleitung nach Lodz ab, um schon nach einigen Wochen wieder mit ihr nach Wien zurückzukehren und, wie es schien, in besserem Einvernehmen[210] als vorher. Ich für meinen Teil hielt es schon darum für richtig, mich von den beiden zurückzuziehen, weil gute Freunde bemüht waren, Nixls Mißtrauen gegen mich zu nähren oder jetzt erst ernstlich zu erwecken. Gegen Abschluß des Winters hatte er mit einem seiner Trunk- und Spielgenossen, einem Husarenoberleutnant, ein Pistolenduell zu bestehen, weil dieser sich antisemitisch-beleidigende Äußerungen über Nixls Familie erlaubt hatte. Am Morgen, da das Duell stattfand, erhielt ich einen Brief von ihm, in welchem er mich bat, für den Fall seines Todes die Nachricht seinen Angehörigen, vor allem Heli zu übermitteln und mich der verlassenen Freundin anzunehmen, die er übrigens materiell sichergestellt habe. Falls bis zwölf Uhr keinerlei Nachricht von ihm an mich gelangt sei, wäre der Augenblick zur Erfüllung meiner Mission gekommen. In einer offenbar erträglichen Aufregung, die mir durch eine Billardpartie noch weiter zu beschwichtigen gelang, – vielleicht nur darum so erträglich, weil ich von einem glücklichen Ausgang völlig überzeugt war, – wartete ich verabredetermaßen im Arkadencafé die Mittagsstunde ab. Wenige Minuten vor der bestimmten Zeit kam Nixl hereingestürzt, im Jagdanzug, den er zur Täuschung der Seinigen hatte anlegen müssen, höchst aufgeräumt, fiel mir um den Hals und berichtete, daß der Kugelwechsel resultatlos verlaufen sei. Das Testament samt dem Legat für Heli war somit vorläufig gegenstandslos geworden und wurde es immer mehr, da Nixl binnen der nächsten Monate den Rest seines Vermögens bis auf den letzten Heller durchbrachte und sich endlich doch genötigt sah, in Lodz oder anderswo eine Stellung anzunehmen. Mein Verkehr mit ihm beschränkte sich bald nur auf Zufallsbegegnungen, seine Beziehungen zu Heli dürften wohl gleichzeitig mit dem Erlöschen seines Bankkontos zu Ende gewesen sein. Geschäftlich kam er nicht recht vorwärts, und ich glaube, daß seine materiellen Verhältnisse durch seine, ein paar Jahre später erfolgte Heirat mit einer alternden Operettensängerin sich eher verbessert haben.

Heli hatte aber nun mit Entschiedenheit die ihr vom Schicksal vorbestimmte Laufbahn angetreten oder fortgesetzt, sie wurde nun wirklich eine sozusagen große Kokotte und durfte sich, wie manche größere und kleinere ihres Berufs, einer flüchtigen Beziehung zu dem Serbenkönig Milan rühmen, was sie denn auch mir gegenüber, als sie mir ein paar Jahre später[211] blaß, hellblond, geschminkt, mit großen blauen Steinen in den Ohren, vor der Oper begegnete, zu tun keineswegs unterließ.

Über diesem studentisch-junggesellenhaften Treiben wurde der Verkehr mit solideren weiblichen Elementen nicht versäumt, der in der Faschingszeit, die sich bekanntlich nicht streng an den Kalender hält, seinen eigentlichen Reiz und Sinn bekam. Schon in den vorhergehenden Jahren hatte, neben Charlotte, unter den jungen Damen der Gesellschaft ein Fräulein Helene Herz mich am stärksten angezogen; und in diesem Winter 85/86 gab es beim Tanz und auf der Eisbahn für mich neben ihr keine ernste Rivalin mehr. Von allen jungen Mädchen, die mich bisher interessiert und mein Interesse erwidert hatten, war sie zweifellos nicht nur die Schönste, sondern auch – das war ihr besonderer Reiz – die Jungmädchenhafteste in Erscheinung und Wesen; und in der Erinnerung sehe ich die schlanke, zarte, wohlgebildete Gestalt kaum anders vor mir als im duftigen, weißen Tüllkleid, mit freiem Hals und Schultern, eine Schwebende, Unberührte. Sie hatte eine ganz eigene Art zu reden; geschwind, unbefangen, nicht sehr geistvoll, doch meist vernünftig, wenn auch manchmal etwas unzusammenhängend; mit einer dunkeln, zuweilen wie gebrochenen Stimme; ihre langwimperigen, schwarzen Augen blitzten dabei auf und verdämmerten gleich wieder unter rasch gesenkten Lidern, was aber keineswegs als ein geheimnisvolles Zeichen innerer Unruhe, sondern nur als Ausdruck einer gewissen Fahrigkeit und Zerstreutheit aufzunehmen war. Diese allerdings ging so nah an die Grenze des Pathologischen, daß ich, obwohl Helene mir im übrigen besonders gut gefiel, und so unverkennbar sie mich vor ihren übrigen Hofmachern bevorzugte, mir kein rechtes Herz zu ihr fassen konnte.

Eine hübsche Brünette aus gleichen, nur weniger begüterten Kreisen, freier und aufgeweckter und von humorhafterem Wesen, Anni Holitscher, war in Peter Altenberg verliebt, der damals noch Richard Engländer hieß; und da sie eine seltsame innere Ähnlichkeit zwischen mir und ihm zu entdecken behauptete, fiel ein Strahl ihrer Sympathie für ihn auch auf mich. Wie für einen Europäer bei oberflächlicher Betrachtung ein Neger wie der andere aussieht, so mag auf ein junges Mädchen, das mit solchen Menschenexemplaren noch nicht viel zu tun gehabt hat, anfänglich auch ein Dichter genauso wie der andere wirken.[212] Dies traf sonderbarerweise in diesem Falle zu, obzwar damals weder ich noch P.A. als Dichter in der Öffentlichkeit hervorgetreten waren und wenigstens in weiteren Kreisen kaum noch im Verdacht solcher Bestrebungen standen. P.A. besonders galt nur als geistreicher Sonderling und gebärdete sich in einer mir nicht ganz echt erscheinenden Weise als berufsmäßiger Neurastheniker, was ich ihm auch gelegentlich ins Gesicht sagte, ohne daß er es mir übelgenommen hätte. Ob er zu jener Zeit überhaupt schon eine Zeile geschrieben hatte, ist mir nicht bekannt; was man etwa von meinen Versuchen in der Gesellschaft erfahren haben mochte, wurde von keiner Seite ernst genommen; und immer wieder blieb es der einzigen Fanni Mütter vorbehalten, mich ermutigend und mahnend auf meine eigentliche innere Berufung hinzuweisen, an deren Betätigung und Bestätigung mir selbst vorläufig so wenig zu liegen schien.

Auch in diesem Jahr erblühte mir eine erhöhte Stimmung nur selten aus eigenem Schaffen oder Schaffensdrang. Die stärksten Anregungen, ja ein ahnungsvolles Gefühl meines eigenen, noch unerschlossenen Wesens und damit allerlei gute, nur etwas vage Vorsätze verdankte ich den Kunsteindrücken, die mir durch Theater und Konzertaufführungen geboten wurden. Unter diesen sind mir die sieben zyklischen Klavierabende Rubinsteins vor allem unvergeßlich geblieben.

Freilich blieb ich schriftstellerisch nicht ganz müßig, und eine Novelle, die mich diesen Winter über beschäftigte, so dilettantisch sie am Ende auch geriet, dürfte um ihrer Grundidee willen eine kurze Betrachtung verdienen, da, ehe Ibsen in Deutschland bekannt geworden war, das Problem der Belastung in rationalistisch-romantischer Weise durch sie gespenstert. Ihr Inhalt ist folgender: Ein neuropathisch veranlagter Dichter, Freund eines Arztes, liebt ein junges Mädchen aus gleichfalls belasteter Familie. Der Arzt, der die Unzulänglichkeit alles ärztlichen Könnens längst mit Schmerzen erkannt hat, wünscht in diesem Einzelfalle wenigstens, eine gewissermaßen ärztliche Pflicht zu erfüllen und im Interesse der kommenden Generation eine Verbindung zwischen den beiden Belasteten zu verhindern. Es fehlt ihm zuerst an dem grausamen Mut, den Freund mit wissenschaftlichen Gründen zur Ehelosigkeit zu bestimmen, doch als die Braut Miene macht, in einer Art von hysterischem Anfall sich dem Arzt an den Hals zu werfen, fühlt dieser sich[213] verpflichtet, oder benützt vielmehr die Gelegenheit, den Freund vor Ella, zwar nicht als vor einer Kranken, doch als vor einer Ungetreuen zu warnen. Benno erklärt ihm erschüttert, diese Warnung komme zu spät; vor wenigen Tagen sei die Braut seine Geliebte geworden und daher müsse und wolle er unbedingt sein Eheversprechen einlösen. Er verschwindet eilends mit ihr aus der Stadt, Doktor Flimmer aber segelt eine Weile als Schiffsarzt über die Meere, kehrt in die Heimat zurück, übt ein paar Jahre seine ärztliche Praxis aus, gibt sie auf und wird endlich Erzieher des Erbprinzen, dem er, gelegentlich mit ihm im Park lustwandelnd, jenes traurige Jugenderlebnis anvertraut. Der Prinz ist ein Melancholiker, grübelt dem Problem des allgemeinen Glückes nach, und genau an dem Tage, da der Fürst, ein heiterer Lebemann, das fünfundzwanzigjährige Jubiläum seines Regierungsantrittes feiert, bricht beim Sohn der Wahnsinn aus. Er tritt auf den Balkon des Schlosses, hält eine Rede vor versammeltem Volk an die Menschheit, in der er sie seiner Liebe versichert und sie um Gegenliebe anfleht. An seinem Krankenbett und ihn für bewußtlos haltend, erzählt nun der Fürst dem Erzieher, daß Marcel nicht sein, des Fürsten, sondern der Sohn eines andern sei, der ihn, den Fürsten, bei seiner Frau betroffen und ihn durch Todesdrohungen zu dem Schwur gezwungen, seinen eigenen, kürzlich geborenen Sohn als Erbprinzen aufziehen zu lassen. Ahnungsvoll frägt Doktor Flimmer nach dem Namen jenes sonderbaren Eifersüchtigen und vernimmt in tiefster Bewegung den seines Jugendfreundes. Der Fürst verläßt das Zimmer, Marcel hat alles gehört, dankt dem Arzt mit den Worten »Edler Mann, du wolltest mich vor dem Unglück bewahren, zu leben« und verliert endgültig den Verstand.

Noch hoffnungsloser als dichterisches Produkt, wenn auch nicht so kindisch-verworren, präsentiert sich ein anderes, das auch mit dem Problem der Belastung, freilich in leichterer und in ganz unbewußter Weise zusammenhängt und in dem, um den Parallelismus zu vollenden, gleichfalls ein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum eine Rolle spielt: Es ist das Festspiel, das ich zum 6. Januar 1886 verfaßte, an welchem Tag mein Vater den fünfundzwanzigsten Jahrestag seiner Promotion und seines Eintritts in die Redaktion der »Wiener Medizinischen Presse« in der etwas solennen Weise feierte, die seinem Geschmack entsprach.[214] Um die Mittagsstunde, im Frack und mit sämtlichen Orden angetan, stand er im Salon, umgeben von Familienmitgliedern, Assistenten und Freunden, ließ sich Adressen überreichen und nahm Ansprachen entgegen, auf die er in freien, doch wohl vorbereiteten und formklaren Reden erwiderte, in denen es an Hinweisen auf die Kämpfe nicht fehlte, die er für seine geliebte Poliklinik zu bestehen gehabt hatte und die noch immer fortdauerten. Gewiß bedeutete die Feier dieses Tages nicht nur einen Triumph seiner Eitelkeit, sondern auch den eines wohlberechtigten Stolzes auf all das, was er nicht nur zu eigenem Ruhm, sondern auch zum Wohl der anderen geleistet und geschaffen; und einem Manne, der fortdauernd so vielen Angriffen und Anfeindungen von Übelwollenden und Neidern ausgesetzt war, mochte es wohl gegönnt sein, sich seine Verdienste einmal ohne jeden kritischen Mißklang laut und vor aller Welt bestätigen zu lassen. Da auch Journalisten zur Stelle waren, die die Reden stenographisch aufnahmen, war für den nötigen Widerhall in ausreichendem Maße gesorgt.

Am gleichen Abend wurde mein Festspiel aufgeführt – vor einem Kreise, den die Blätter, die auch hievon Notiz nahmen, einen illustren zu nennen allen Grund hatten, da sich unter den Anwesenden nebst vielen der berühmtesten Schauspieler und Sänger, wie Charlotte Wolter, Adolf Sonnenthal, Gustav Walter, auch der Fürst Ferdinand von Koburg (der künftige König von Bulgarien), Graf Mensdorff (der spätere Botschafter in England), der Dompropst Marschall, der dem Kuratorium der Poliklinik angehörte, und die Fürstin Metternich befanden. Mein Stück, mit dessen Regie sich neben mir auch mein Onkel Edmund Markbreiter befaßt hatte, zerfiel in drei Bilder: das erste, im Riedhof spielend, zeigte meinen Vater als jungen Doktor im Kreise von Kollegen und Studenten, denen er von seiner Verlobung Mitteilung macht, – das zweite führte ihn als Redakteur, jungen Ehemann und Doktor ohne Patienten vor, – im dritten erschien er als das, was er indessen wirklich geworden, als Professor und Regierungsrat unter seinen Patienten. Ich stellte ihn, meine Schwester Gisela seine Gattin, unsere Mutter, dar, in Nebenrollen wirkte mein Onkel Peter von Suppé als verbummelter Student, sowie etliche Vettern, Basen und sonstige Bekannte mit, unter denen meine Cousine Olga Mandl als Konservatoristin und Herr Fritz Fürst durch[215] eine Sonnenthal-Kopie auffielen; ein Scherz, den uns Sonnenthal sonderbarerweise ein wenig übelnahm. Wohlfeile Gelegenheitsspäße regten das freundliche Publikum zu Heiterkeit und Beifall an, wozu das völlig humorverlassene, offenbar ganz stimmungslos hingeschleuderte Werkchen sonst keinen Anlaß geboten hätte.

Lese ich heute Novelle und Festspiel durch, so überrascht mich nicht einmal so sehr der scheinbare Mangel aller Anzeichen von dichterischer oder nur schriftstellerischer Begabung (nach Anfängen, die im »Aegidius« z.B. immerhin etwas versprochen hatten), als vielmehr die geistige Unreife, die in jenen Versuchen zutage tritt und die bei einem Vierundzwanzigjährigen, der in jungen Jahren frühreif gewesen war, fast wie ein Naturspiel anmutet.

Nach diesem Fest- oder Naturspiel also folgte das Souper von mehr als hundert Gedecken; Toaste, ernste und humoristische, unter denen der des Dozenten Urbantschitsch den größten Beifall fand, wurden auf den Jubilar ausgebracht, der auf jeden im angemessenen Ton gewandt und unermüdlich zu erwidern wußte. So stellte dieser Tag mit all seinen Ehren und Freuden gewiß einen der glücklichsten im Leben meines Vaters vor; und auch ich blieb nicht ungerührt, wenngleich ich schon damals nicht recht begriff, was einem klugen und tätigen Manne an dergleichen Feierlichkeiten besonderen Spaß bereiten konnte.

Der Winter ging weiter hin in mäßiger Arbeit, mancherlei Vergnügen und viel Zerstreuung, und im Karneval wurde reichlich getanzt, wie gewöhnlich. Auf einem Kostümball im Musikvereinssaal begegnete ich, als Wiener Strizi verkleidet, dem unvergessenen, wenn auch vernachlässigten Fännchen, das als Wäschermädel erschienen war, so daß wir an diesem Abend besonders gut zusammenpaßten; auf einem der Privatbälle, die ich besuchte, hatte ich, nachdem ich monatelang vergeblich nach einem sogenannten Abenteuer ausgeschaut, den Vorzug, der französischen Gouvernante des Hauses zu gefallen, doch war sie nur einen Nachmittag lang meine Geliebte, denn erstens war sie verlobt, zweitens war ich nicht der einzige, mit dem sie ihren Bräutigam hinterging, und endlich hatte sie nur alle vierzehn Tage Ausgang, Gründe genug für sie, mit ihrer Zeit hauszuhalten.

Auch in den Fasten und im herannahenden Frühling wollten[216] die Lustbarkeiten, die sich heuer ganz besonders drängten, kein Ende nehmen, und eben hatten die Proben zu einem kindischen Stück meines Jugendfreundes Emil Brüll begonnen, in dem mir die Rolle eines Greißlers zugeteilt war und dessen Aufführung für Anfang April bevorstand, als ein Ereignis, das, so allmälig es sich vorbereitet hatte, doch unerwartet eintrat und diesen Proben, wie überhaupt dem ganzen Lauf meiner Existenz mit drohender Gebärde Einhalt gebot. Seit Beginn des Jahres etwa hatte sich an meiner linken Halsseite eine Lymphdrüse bemerkbar gemacht, die allmälig und doch verhältnismäßig rasch fast bis zu Kindsfaustgröße anschwoll.

Wie es gerade Hypochondern zuweilen passiert – weil sie eben Hypochonder sind – nahm ich die Sache, die mir als Fachmann von vornherein hätte bedenklich scheinen müssen, nicht recht ernst, behandelte sie mit Jodpinselungen und Umschlägen und ließ mich in meiner sonstigen Lebensweise nicht im allergeringsten stören. Auch mein Vater hätte nach seiner Art von der unbequemen und peinlichen Tatsache, daß ein Familienmitglied und gar sein Sohn wirklich krank sein konnte, am liebsten keine Notiz genommen; endlich aber ließ er sich durch meinen Kollegen Marcus Hajek, der, mit meiner Schwester insgeheim verlobt, damals schon viel in unserem Hause verkehrte, bestimmen, den Chirurgen Professor Albert zu Rate zu ziehen. Eines Nachmittags, gegen Ende März, begab ich mich mit meinem Vater in die Ordination des vortrefflichen Arztes und versuchte ihm vorerst dadurch eine milde Diagnose zu entlocken, daß ich, freilich ohne innere Überzeugung, einen kariösen Zahn als ursächliches Moment der Drüsenschwellung anschuldigte, eine Auffassung, die der Professor mit einer fast unwirschen Entschiedenheit ablehnte. Zwar erklärte er, vorläufig von einer Inzision absehen zu wollen, obwohl an einer Stelle schon leichte Fluktuation nachzuweisen wäre, bestand aber auf sofortiger Einstellung des Spitalsbesuches, mahnte zu geordnetem Lebenswandel und riet endlich nebst allerlei diätetischen Maßnahmen zu einem mehrwöchentlichen Aufenthalt im Süden. Daraufhin sah ich mich doch veranlaßt, ihn zu fragen, ob er die Erkrankung als eine tuberkulöse ansehe, worauf er einfach erwiderte: »Sie müssen jedenfalls so leben, als wenn Sie tuberkulös wären.« Das war deutlich genug, auch für meinen Vater, der dann noch für eine Weile bei Professor Albert zurückblieb, während[217] ich allein und in unbelauschten Tränen die Treppen hinunterging. Doch hielt diese Betrübnis nur eine ganz kurze Zeit an; eine Viertelstunde später saß ich schon in dem lichtlosen, rauchigen Halbstock des Arkadencafés bei einer Pokerpartie mit ein paar Freunden, unter denen sich Louis Mandl und Richard Tausenau befanden, spielte wider meine Gewohnheit mit ausgesprochenem Glück und bekam einmal sogar vier Könige in die Hand.

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von meinem liebenswürdigen Chef, dem Primarius Standthartner, auf dessen Abteilung ich mich wahrscheinlich infiziert hatte und der mir mit freundlich-besorgter Miene baldige Wiederherstellung wünschte, verblieb noch ein paar Tage in Wien, erschien sogar blaß und mit schwarz verbundenem Hals auf dem poliklinischen Kränzchen; und, nachdem ich meine Rolle in »Mein Mausi« mit Bedauern in die Hände des Verfassers zurückgelegt, trat ich an einem der letzten Märztage die anbefohlene Reise nach dem Süden an.

Im vergangenen Sommer in Reichenau, wenn ich nach dem Abendessen mit der koketten Witwe vor dem Thalhof auf und ab spazierte, hatte sich zuweilen auch die junge Wirtin zu uns gesellt, die im Gegensatz zu dem etwas ländlichen Gehaben ihres wohlgewachsenen, gleichfalls noch jungen Gatten sich mit gutem Recht als die Dame von Welt zu geben liebte. Denn wenn sie auch als die älteste Tochter des in seiner Art berühmten Stefanskeller- und Südbahnwirtes glänzend die Küche zu führen verstand, wo die Intimen sie gelegentlich am blinkenden Herd besuchen und bewundern durften – sie konnte es an Geschmack und allgemeiner Bildung und besonders an äußeren Vorzügen mit der Mehrzahl ihrer weiblichen Gäste aufnehmen. Schon im Alter von sechzehn Jahren hatte sie geheiratet, war nun als Zweiundzwanzigjährige Mutter von drei Söhnen; und wenn sie ihren Gatten überhaupt jemals geliebt hatte (was von niemandem behauptet wurde), es war unschwer zu merken – und Frau Olga brachte es manchmal vielleicht allzu deutlich zum Ausdruck –, daß ein tieferes Einvernehmen zwischen den Eheleuten heute keineswegs mehr vorhanden war. Da ich in jenem Sommer innerlich nur mit der koketten Witwe beschäftigt gewesen war, so hatte ich mich um Wesen, Ruf und Schicksal der schönen Wirtin nicht sonderlich bekümmert, immerhin hatte[218] es schon einige Anknüpfungspunkte zwischen uns gegeben. So hatte sie einmal, ganz wie Anni Holitscher, die Bemerkung gemacht, meine Art gemahne sie an Richard Engländer (der öfters mit Eltern und Geschwistern im Thalhof gewohnt hatte, wie man später aus den schönen Büchern von P.A. auch in weiteren Kreisen erfuhr); überdies wußte sie sich zu erinnern, daß wir beide, sie und ich, als Kinder zu Vöslau in der Villa Rademacher (die später meinem Onkel Mandl gehörte) miteinander gespielt und uns sogar geprügelt hatten, was mir völlig aus dem Gedächtnis geschwunden war. Ungeachtet so bedeutungsvoller Zusammenhänge hatte ich damals den Eindruck, ihr im Grunde nicht einmal recht sympathisch zu sein; und als ich ihr ein halbes Jahr nachher am ersten Tag meines Meraner Aufenthaltes auf der Straße begegnete, begnügten wir uns beide – sie war übrigens in Gesellschaft einer bekannten Familie – mit einem höflichen Gruß von ferne. Nun fügte es sich, daß mir der Gasthof, in dem ich abgestiegen war, nicht behagte, und so übersiedelte ich in einen andern, den Tiroler Hof, wo ich an der Table d'hôte Frau Olga zum zweitenmal erblickte und ein paar gleichgültige Worte mit ihr wechselte; nach Tisch aber plauderte ich mit der Mutter und den Schwestern meines Freundes Nixl, die zufällig gleichfalls im Tiroler Hof wohnten. Bei dieser Einteilung blieb es auch in den nächsten Tagen, in denen sich nichts weiter veränderte, als daß von den Gästen, die an der Table d'hôte zwischen Frau Olga und mir saßen, einer nach dem andern, wie auf Verabredung, abreiste, so daß wir uns endlich lächelnd als Tischnachbarn begrüßen konnten. Wenn das allmälige Verschwinden unserer Zwischenmänner und -damen auch auf ganz natürliche Weise vor sich gegangen war, es gefiel uns bald, unser Entgegen- und Näherkommen als vom Schicksal gewünscht und gefördert anzusehen, und es kam zwar etwas unvermittelt, aber doch nicht überraschend von ihren Lippen, als sie mich schon bei unserer ersten Tischunterhaltung ihres Vertrauens versicherte. »Komisch, daß ich Ihnen das selbst sage«, setzte sie hinzu, und bescheiden erwiderte ich, daß ich mich dieses Vertrauens noch mehr freuen würde, wenn ich es nicht – denn wieder hatte sie von jener ihr auffallenden inneren Verwandtschaft zwischen mir und Richard Engländer gesprochen – als eines aus zweiter Hand empfinden müßte. Im Lauf des Gespräches kamen wir auf das Thema vom Aberglauben.[219] So frei ich mich davon wußte oder glaubte, ich mußte doch zugestehen, daß ich für gewisse Zahlen eine ausgesprochene Vorliebe hegte; so seit einiger Zeit für die Zahl sechsundzwanzig, und zwar aus einem ganz bestimmten Grunde, der mit meiner Turfpassion zusammenhing. Mein Bruder und ich hatten bei irgendeiner geselligen Zusammenkunft der Verlosung eines Blumenstraußes beigewohnt, der auf nicht ganz korrektem Wege der Frau des Kapellmeisters Robert Fuchs auf die Nummer sechsundzwanzig zugefallen war. Daraufhin hatten wir beschlossen, bei dem tags darauf stattfindenden Derby das Pferd mit der Startnummer sechsundzwanzig zu wetten. Zufällig trug sie der Favorit Buzgó, und wir gewannen einen nicht sehr beträchtlichen Betrag. Ich drückte nun Frau Olga gegenüber mein Bedauern aus, daß ich hier im Gasthof nicht das Zimmer sechsundzwanzig bewohne, sondern Numero fünf. »Und Sie, gnädige Frau?« – »Einundzwanzig«, erwiderte sie. – »Einundzwanzig und fünf sind sechsundzwanzig«, stellte ich fest, und so hatte uns das Schicksal neuerdings ein Zeichen gegeben. Wir sahen einander lange in die Augen und wußten plötzlich, wie wir zueinander standen.

Frau Olga stellte mich einigen Bekannten vor; so einer Wiener Fabrikantenfamilie Salcher, einem recht gewöhnlichen, dicken Ehepaar mit zwei ebenso unbedeutenden, mageren Töchtern, in deren Gesellschaft nunmehr Spaziergänge und Ausflüge unternommen wurden. Der erste führte uns ins Naiftal. Olga und ich hatten zwar kaum Gelegenheit, miteinander zu reden, aber es war jenes Schweigen, in dem man sich nur immer näher zueinanderfindet und das wunderbarer und reiner in uns nachtönt, als Worte zu tun vermögen. Am Tag darauf fuhren die Eltern Salcher nach Bozen, wir andern verließen das Coupé schon in Sigmundskron, wanderten im Wald umher, lagerten am Hang eines Weinbergs, stiegen auf zur Burg, wobei Olga, eine kühne Kletterin und Jägerin, und ein bißchen stolz darauf, daß sie es war, absichtlich einen sehr schmalen Weg über Geröll und Steine wählte. Sie glitt aus, die Steine rollten unter ihr fort, ich faßte rasch ihre Hand, und sie meinte, nicht ganz ernsthaft: »Was wäre daran gelegen, wenn ich hinabgestürzt wäre?« Dann stiegen wir wieder zu Tal, fuhren im Wagen nach Bozen, wo die alten Salchers unserer warteten; bald saß man im Eisenbahncoupé, Olga mir gegenüber, unsere[220] Augen sanken ineinander, und ich empfand schmerzlich-erschreckt, daß auch diese Minuten zur Vergänglichkeit bestimmt seien. Sie wandte sich immer wieder zurück nach Sigmundskron, das abwechselnd unsichtbar und wieder sichtbar wurde, um sich endlich unseren Blicken gänzlich zu entziehen. Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft in Meran saßen wir alle zusammen an der Table d'hôte, Olga aber, während die Schüsseln gereicht wurden, flüsterte mir zu: »Ich wollte, alles um uns sänke in die Erde und wir zwei blieben allein auf der Welt.« Nach Tisch, wie ich schon abends vorher getan, phantasierte ich in meiner dilettantischen, aber angenehmen Art auf dem Piano, Salchers und andere dämmerten und dümmelten im Saal, Olga aber saß mir gegenüber, süße Trauer in den Zügen, und ich wußte, daß diese Trauer mir galt, denn der morgige Tag war bestimmt, der letzte meines Meraner Aufenthaltes zu sein.

Und er kam wolkig und schwül. Man spielte Croquet im Hotelgarten; sie, ich und die beiden Fräulein Salcher. Wenn die Wolken sich verzogen, stach die Sonne heftig und böse auf den Spielplatz; die Partie wurde abgebrochen, und Olga forderte mich zu einem kleinen Spaziergang auf. Das Gespräch war anfangs mühselig und stockte mehr als einmal. Endlich, wie nach einem Entschluß, sagte sie, die Augen zu Boden geheftet: »Um eines wollte ich Sie bitten, kommen Sie nicht vor Herbst nach Reichenau.« Und sie erzählte mir von der Eifersucht und dem Mißtrauen ihres ungeliebten und sehr verliebten Mannes, der Strenge ihres Vaters und von einer Geschichte, die im zweiten oder dritten Jahre ihrer Ehe, also vor beinahe fünf Jahren, sich ereignet hatte, zwischen ihr und – hatte ich es nicht längst vermutet! – jenem Richard, der mir angeblich so ähnlich war. Es war ein höchst unschuldiges Verhältnis gewesen, durch gemeinsame Lektüre gefördert, und die höchste Zärtlichkeit, die sie ihm gewährt hatte, war, so erzählte sie, ein Kuß auf ihre Hand gewesen. Der Gatte aber erklärte ihr eines Tages, er werde den jungen Mann erschießen, wenn er sich noch einmal im Thalhof blicken ließe; sie entschloß sich daher, ihm einen Abschiedsbrief zu schreiben, und Richard war genötigt, Reichenau zu verlassen. Von diesem Tage an, so erzählte sie weiter, hatte sie ihrem Gatten die Treue gehalten, ja war fest entschlossen, sie ihm, soweit er sie fordern durfte, auch weiterhin aufs strengste zu bewahren, und mit einer süßen, bebenden Stimme schloß sie: »Ich[221] möchte Ihnen also meine Freundschaft anbieten, – anderes als Freundin kann ich Ihnen ja nicht sein. Eine metaphysische Freundschaft sozusagen. In jedem Schmerz, in jeder Freude sollen Sie denken: Es ist eine da, die mit Ihnen sich freut, mit Ihnen leidet. Wollen Sie diese Freundschaft annehmen?« Und sie streckte mir ihre kühle, weiße Hand entgegen, die ich mit Inbrunst küßte.

Am Nachmittag trafen wir uns verabredetermaßen im Lesesaal des Kurhauses und wanderten gegen Sankt Valentin. Wie ist es denn nur gekommen zwischen uns? fragten wir einer den andern eins ums andere Mal. Und mit einer kindischen, so nah vor dem Scheiden wahrhaft grausamen Freude riefen wir uns die einzelnen Momente, die wir miteinander verlebt, in denen wir einander gefunden, ins Gedächtnis zurück. »Erinnern Sie sich«, fragte sie, »an unsere Partie im Naiftal vor sechs Jahren?« – Und ich darauf: »Und Sigmundskron vor fünf, war es da nicht noch schöner?« Und wir sprachen vom vorigen Sommer, der nach dieser Berechnung einige tausend Jahre zurücklag und vielleicht noch weiter, da wir uns ja damals noch nicht geliebt hatten; und von der ersten, halbfremden Begegnung in Meran auf der Straße und von dem schicksalhaften Verschwinden unserer trennenden Table-d'hôte-Nachbarn und von den zwei Salcher-Mädeln, der hübschen Dreizehnjährigen und der langweiligen Siebzehnjährigen, und von dem eleganten, höflichen Herrn Basin mit der kranken Lunge, der nur mehr ein oder zwei Jahre zu leben hätte, und von dem gefährlichen Weg längs der Mauer von Sigmundskron, und natürlich von der geheimnisvollen, glückbringenden Nummer sechsundzwanzig oder vielmehr einundzwanzig plus fünf, – da es doch niemals zur Addition gekommen war. Wir saßen auf der Terrasse von Sankt Valentin, blickten talwärts und wünschten, daß die Minuten ewig dauerten. Sie trug einen Pelzüberwurf mit Quasten, ihrer Gewohnheit nach spielte sie mit ihnen, ließ sie durch die Finger gleiten und führte sie an die Lippen. Eine riß sie ab und schenkte sie mir. Ich habe sie viele, viele Jahre hindurch wie ein Kleinod verwahrt. Endlich mußten wir fort. Auf dem Nachhauseweg bat sie mich, abends nicht Klavier zu spielen. »Mir ist, als sprächen Sie da zu mir. Sie verstehen, was ich meine.«

Das Abendessen wurde wie immer an der gemeinsamen[222] Tafel genommen, und nachher saßen wir, Olga und ich und der todgeweihte, elegante Herr Basin – aber war nicht Todgeweihtsein schon an und für sich die höchste Eleganz, die einem Menschen beschieden sein konnte? –, noch längere Zeit plaudernd im Speisezimmer. Endlich entschloß man sich allseits zum Gute-Nacht-Sagen. Und wie mit Absicht, denn zuweilen überkommt auch die kältesten Philisterherzen unbewußt eine Art Andacht vor der Heiligkeit eines großen Gefühls – verschwanden die andern, und ich blieb mit Olga allein in dem großen und schwach beleuchteten Raum zurück. Ich küßte ihr zu endgültigem Abschied die Hand, plötzlich aber lagen wir uns in den Armen mit einem langen, heißen Kuß. Sie riß sich los und ging auf Zimmer Numero einundzwanzig. Ich auf ein anderes. Die Summe stimmte allerdings.

Der Morgen brachte kalten Wind und Regen, der mir peitschend ins Gesicht schlug. (Ja, so war es wirklich – denn zuerst war die Natur, dann kam die Novelle.) Zum letztenmal trat ich aus dem Tor des Tiroler Hofs, die Kappe in die Stirn gedrückt, mit aufgestelltem Kragen, – denn damals pflegte man als Reserveoffizier aus Ersparungsrücksichten (man zahlte auf der Eisenbahn halben Preis) in Uniform zu reisen –; und als ich mich von der Straße aus noch einmal umwandte, stand Olga auf dem Balkon ihres Zimmers (es hätte am Ende auch Numero zweiundzwanzig sein können), einen Shawl um Kopf und Schultern geschlagen, und nickte mir ernst und traurig einen Abschiedsgruß zu. Ich eilte zum Bahnhof, weinte im Wartesaal, weinte im Coupé und weinte noch in Franzensfeste vor dem Mittagessen. Auf dem Perron hin und her gehend traf ich einen flüchtigen Kaffeehausbekannten aus Wien, einen harmlosen Bankbeamten, namens Kuranda. Es tat mir wohl, ein paar Worte mit ihm zu reden. Ich sehe ihn seither, es sind über dreißig Jahre seitdem verflossen, von Zeit zu Zeit immer wieder in der Bank über sein Pult gebeugt, und wir grüßen uns höflich-verständnisvoll, ohne jemals ein Wort miteinander zu wechseln. Aber ich bilde mir noch heute ein, daß er damals meine Tränen bemerkt, meinen Schmerz geahnt und daß dieses Zusammentreffen in Franzensfeste auch für ihn irgendeine romantische Erinnerung geblieben ist. Und er sieht heute für mich noch genauso aus wie vor dreißig Jahren.

Quelle:
Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Wien, München, Zürich 1968, S. 192-223.
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