Wiedersehn

[149] Ach, ich soll dich wiedersehen,

Die so lange mir entschwand,

Soll an deiner zarten Hand

Noch einmal durchs Leben gehen;

Ach, ich soll dich wiedersehen,

Und doch darf ich noch gestehen,

Daß ich je den Schmerz gekannt?


Glühend will ich dich umfangen,

Will mit leisem Liebesbangen

Fest an deiner weichen Brust

Und an deinen Lippen hangen,

Will mit lechzendem Verlangen

Schlürfen den Pokal der Lust.

Alle meine künft'gen Thränen

Sollen Freudenthränen seyn;

Sehn' ich mich, so sey mein Sehnen

Der Gewährung Dämmerschein.

Nur in dich will ich versinken,

Will mir zarte Träume trinken

Aus der Liebe Wunderborn;

Dich nur will ich ganz umschlingen,

Will nach deinem Lächeln ringen

Und erbleichen deinem Zorn.[150]

Dich nur soll mein Wille fragen,

Mit dir theilen Lust und Scherz,

Mit dir weinen und verzagen;

Und es soll mein treues Herz

Länger nicht als deines schlagen! –

Ach, kaum trug ich jüngst den Schmerz,

Werd' ich jetzt die Wonne tragen?

Quelle:
Ernst Schulze: Sämmtliche poetische Schriften, Band 4, Leipzig 1819–1820, S. 149-151.
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