Frühlingsmorgenlied

[68] Viel erwart' ich gar von euch

Frischen Morgenlüften,

Viel von dir, du Waldgesträuch

Mit den Lenzesdüften.
[68]

Erstlich sollt ihr meine Brust,

Die erkrankte, heilen,

Sollt ihr neue Lebenslust,

Neue Kraft ertheilen.


Und wenn dieses ist geschehn,

Möcht' ich doch nicht leben,

Wenn nicht euer Duft und Wehn

Beßres wollte geben.


Dichters Brust hat nicht genug

An gesundem Hauchen,

Will, aus jedem Athemzug

Soll ein Lied ihr tauchen.


Solche Lieder, Morgenwind!

Sollst du in ihm wecken,

Die mit junger Saat geschwind

Seine Lippen decken.


Und du Duft von Blum' und Laub,

Sollst dich drauf ergießen,

Daß mit zartem Blütenstaub

Sie befruchtet sprießen.


Bis ihm wird die frohe Brust

Ganz genesen wallen,

Und das reife Lied mit Lust

Von der Lippe fallen.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 68-69.
Lizenz:
Kategorien: