Die Weissagung des Chiliasten 1740

[130] 1836.


Tiefstill ist's in der nächt'gen Stube,

Wo nur das Herz des Forschers schlägt,

Wie in der öden Eisengrube

Des Bergmanns Hammer nur sich regt.

Zum Stumpf gebrannt nickt schon die Kerze,

Sie leuchtet schwach der dunkeln Schrift,

Da wo sein Geist im Wort von Erze

Der Offenbarung Rätsel trifft.


Vergangenheit ruht ausgebeutet

In der Geschichte hellem Schatz,

Allein die Zukunft, ungedeutet,

Liegt schwer im Finstern, Satz an Satz.

Vergebens bohren sich die Blicke

In ihre Dämmerschichten ein:

Nicht klarer werden die Geschicke –

Und jetzt erlischt der Kerze Schein.


Doch, wie der äußre Schimmer schwindet,

Tritt seiner Seele Licht hervor;

Sein Aug', am Lampentag erblindet,

Geht auf; es wacht sein innres Ohr.

Wie Feuer schau'n beseelte Lettern

Mit wunderbarem Sinn auf ihn;

Fernher Gerichtsposaunen schmetter

Die Wände seiner Kammer fliehn.


Nicht weiß er, ist es Süd, ist's Norden,

Ist's West, ist's Ost, wohin er schaut;

Nur, daß die Welt ist zeitig worden,

Nur, daß der Gottesmorgen graut.

Nicht blos das Schlechte schießt in Aehren,

Das Gute selbst ist erntereif,

Ein Engel hält, ihn zu belehren,

Das Buch ihm vor und spricht: »Begreif!«
[131]

Da sieht er Zeit, die weithin ackert,

Er steht der Erde breite Saat;

Wie von Vulkanenglut beflackert,

Glänzt Volk um Volk, und That um That.

Bald hat die Nacht das Licht verschlungen,

Bald quillt's empor aus ihrem Schoos;

Und von Verständniß jäh durchdrungen,

Wird auch des Sehers Zunge los:


»Ruh' ist umher, die Völker schleichen,

Doch diese Ruhe währt nicht lang;

Bald giebt die Weltuhr ihre Zeichen

Die jetzt noch stöhnt in leisem Gang.

Im Schoos der Erde nur ist Brausen,

Und unter Hefe gärt der Wein;

Bald springt sein heller Stral mit Sausen

Hoch in des Zornes Kelch hinein.


Dort flammt's – o Stätte der Empörung!

Bist du Jerusalem, bist Rom?

Es bricht die Gärung, die Zerstörung

Aus dir mit ihrem Lavastrom:

Die Kronen von den Herrscherwarten

Und die Gesetze schwemmt er fort;

Verwandelt euch, ihr Länderkarten,

Umstalte dich, gewohntes Wort!


Und ein Jahrhundert, wechseltrunken,

Erwacht; vom Sturze dröhnt die Luft.

Dich sucht mein Blick – du liegst versunken,

Uraltes Reich, tief in der Gruft.

Dem Schutt entsteigt ein bleicher Schemen,

Die Zauberzahl benennt ihn mir:

Er steht erhöht auf Diademen,

Und ›Gallus Cäsar‹ schimmert's hier.


Und Boten über Boten fliegen,

Sie theilen Schreckenskunden mit;

In wilder Fieberzuckung liegen

Die Länder unter Hufetritt.[132]

Es geht vorüber; tiefe Stille;

Vergessner Sturm, vergessne Not.

Dem Fleisch geschieht, wie vor, sein Wille,

Der Fromme nur ißt Thränenbrot.


Und doch ist seine Hoffnung Wahrheit,

Und Gottes Reich kommt doch herbei;

Bald wird aus Ahnungsdunkel Klarheit,

Und Frühling aus der Wüstenei.

Der Schnee umhüllt mit kalter Binde

Die schlummernde, begrabne Zeit,

Doch aus der eisgeborstnen Rinde

Blinkt hier und dort das grüne Kleid.


Thauwetter weht, die Winde jagen,

Das Thier ist aus dem Abgrund los,

Es tobet Kampf, die Völker zagen

Bei Harmageddons Schlachtentos.

Getrost, die Schlange wird gebändigt;

Erschienen ist das große Jahr,

Das erst mit tausend Jahren endigt,

Eins wie das andre sonnenklar.


Welch sanftes Licht bescheint die Matten,

Wie unabsehbar blüht das Feld!

Was Heiden je gesungen hatten

Von alter, goldner Zeit der Welt,

Von seligen Verganenheiten,

Von einem Gottesfriedenstraum –

Das lag im Reich der Künftigkeiten

Und leiblich jetzt erfüllt's den Raum!


Welch sanftes Licht scheint in den Seelen!

Der Hirte Gottes weidet sie!

Da hört man keine Treiber schmälen,

Ein Seufzer steigt zum Himmel nie!

Wohl giebt es Fürsten, Unterthanen,

Doch alle sind sie Brüder nur,

Die Geister gehn in ihren Bahnen

Wie sichre Stern' auf goldner Spur.« –
[133]

So sang der Greis mit Sehermute,

Der aus dem offnen Buch ihm quoll;

Fern, fern glaubt' er die Skythenrute,

Die Gog und Magog binden soll.

Das Jahr, den Enkeln zubeschieden.

Stand vor ihm knospend, rosengleich.

Er selbst ging ein zu Jesu Frieden

In's mehr als tausendjähr'ge Reich.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 130-134.
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