Ein Lebenslauf

[134] In unser armes Fleisch und Blut

Verkleidet sich das ew'ge Gut.


Den aller Weltkreis nicht beschloß,

Der liegt in einer Mutter Schoos.


Spät, aus der Hütte, tritt hinaus

Der Gottessohn in Vaters Haus.


Glimmenden Docht, zerstoßnes Rohr,

Er facht ihn an, richtet's empor.


In Geist und Wahrheit beten heißt

Er alles Volk zum Einen Geist.


»Das fleischgeborne Fleisch lebt nicht,

Bis es als Geist sein Band zerbricht.«


Zum Zeugniß drückt er der Natur

Allmächtig ein des Geistes Spur:


Er wandelt Wassers Eigenschaft

In geist'ger Traube Saft und Kraft;


Sein Wort vertausendfältigt Brot,

Sein Athem haucht hinweg den Tod.


Er schließt der See den Wellenmund

Und heißt sie schweigen bis zum Grund;


Es greift sein Fluch der Blätter Saum:

Nachtüber dorrt der Feigenbaum.


Dann beut er, Sündern zum Gewinn,

Dem Schlangenstich die Ferse hin;
[134]

Er heftet sich ans Kreuz als Schuld,

Den Zorn verbüßt er als Geduld;


Er keimt als Saatkorn einer Welt,

Er fliegt als Licht zum Sternenzelt.


Von dort besucht auf Geistespfad

Er Kind um Kind im Wasserbad;


Von dort geht er durch Lippen ein

Als Fleisch und Blut in Brot und Wein.


Von dort kehrt er in Herzen rein

Als Demut und als Sanftmut ein.


Das Böse straft sein letzt Gericht,

Es macht die Finsterniß zu nicht.


Und ist die Nacht in Tag verklärt,

In Leben aller Tod verkehrt:


Dann wird der Sohn im Vater frei,

Daß Alles Gott in Allem sei!

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 134-135.
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