An einen Greis

[156] Ein halb Jahrhundert lang hast du geleeret

Des Weines und der Liebe Freudenbecher;

Mutwillig Liebender, unmäß'ger Zecher,

Zum Maß hat dich das Alter erst bekehret.


Doch bleibest du, wo Traubenflor sich nähret,

Wo Mädchenblüt', ein lobeswarmer Sprecher,

Die Flamme brennt nur ruhiger, nicht schwächer,

Ein Feuer, das nur wärmt und nicht verzehret.


So wird, was einst mißfiel an dir, zur Zierde,

Als Jugend lebt's in deinen alten Tagen;

Vergebe dir der Himmel deine Fehle:


Uns Menschen rührt so friedliche Begierde,

Der groben Hülle hat sie sich entschlagen

Und wandelt nun als Geist durch deine Seele.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 156-157.
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