Der Schwedenthurm

[238] Zu Würzburg steht ein grauer Thurm

Weitab vom lust'gen Maine,

In seinen Balken pickt der Wurm,

Es nagt das Moos am Steine.


Die hohle Brust durchröchelt schwach

Ein rostig Uhrwerk stöhnend,

Sein Stundenschlag ist auch noch wach,

Doch nur die Zeit verhöhnend.


Denn wenn die Glocken alle ruhn

Ein Viertel vor der Stunde,

Beginnt er ein verkehrtes Thun

Mit eh'rnem Lügenmunde.


Ob seinem frühen Schlage quält

Sich, was auf Märkten handelt,

Der Kranke, der die Stunden zählt,

Der Reisende, der wandelt.


Wie dulden es die Städter nur,

Den Trüger stets zu hören?

So wißt: sie mögen seiner Uhr

Den alten Fluch nicht stören.
[238]

Denn in dem dreißigjähr'gen Sturm,

Im langen Jammerkriege,

Da war der falsche Schwedenthurm

Einst eines Greuels Wiege.


Verschwörer saßen dort versteckt

In seiner Glockenstube;

Ein dumpfer Streich ward ausgeheckt

In luft'ger Mördergrube.


Als drauf die Stadt voll Frieden schlief,

Die unbewehrte Rechte

In sichrem Schlummer senkten tief

Des Reiches treue Knechte,


Ein Viertel hub vor Mitternacht

Der Thurm an irr zu reden:

Zwölf Schläge dröhnten da mit Macht,

Laut riefen sie dem Schweden.


Und der verstand das Zeichen wohl,

Ein Pförtlein fand er offen,

Das Blut in allen Kammern quoll,

Die Schlummerkissen troffen.


Der Strom empfing, als tiefes Grab,

Der Leichen schwer Gerölle;

Doch Jubel soll vom Thurm herab,

Hoch oben jauchzt die Hölle.


Ihr Sieg war kurz, ihr Stachel ward

Geknickt durch schnelle Rache;

Dem Thurm verräterischer Art

Ließ man des Truges Sprache.


Im Räderwerk der Wahnsinn knarrt;

So steht er grau, zerfallen;

Muß, bis man ihn als Schutt verscharrt,

Von seiner Sünde lallen. –

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 238-239.
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