Der Sohn des Regenten

[242] 1747.


Vor der letzten engen Zelle

In Sanct Genofevens Haus

Murmelt schwach die ferne Welle

Von der Weltstadt Lustgebraus.


Kein Gemach ist so voll Bängniß

In den Gäßchen von Paris,

So voll Schatten kein Gefängniß,

Keines Mörders Thurmverließ.
[242]

Hier wohnt Einer, müd' von Plage,

Harmvoll, in geringer Tracht.

Auf dem Knie liegt er am Tage,

Hart auf Stroh ruht er zu Nacht.


Und kein Holz am kalten Morgen

Knistert lindernd im Kamin,

Selbst die Bettler sind geborgen,

Keinen schüttelt Frost, wie ihn.


Bei dem kargen Mittagsmahle

Speist das schwarze Brod ihn kaum,

Und zum Wasser in der Schale

Mischt sich nie des Weines Schaum.


Sechsmal nach dem Winterreife

Hat sein Fenster ihm gethaut,

An dem schmalen Himmelsstreife

Sechsmal ihm der Lenz geblaut.


Da erscheint in seiner Pforte

Goldbetreßter Diener Hauf',

Und mit ehrfurchtsvollem Worte

Stört er den Versenkten auf:


»Gnäd'ger Herzog! drin im Schlosse

Harrt der Sohn in Liebe dein:

Wollest seinem ersten Sprosse,

Deinem Enkel, Pate sein!«


Und er hebt, gedenk der Würde,

Von den Knieen sich empor,

Schreitet mit der Purpurbürde

Ludwig Orleans durch's Thor.


In dem schimmernden Palaste

Seiner Väter weilt er stumm,

Sieht sich in dem eiteln Glaste

Wie ein Grabentstiegner um;


Wiegt den Enkel in den Armen,

Bis das Taufbad ihn geweiht,

Läßt mit Blicken voll Erbarmen

Ihn im Schoos der blinden Zeit.
[243]

Wie er in der Halle wieder

Einsam seinem Heiland lebt,

Wirft er sich auf's Antlitz nieder,

Daß sein Innerstes erbebt:


»Einer liegt vor dir von allen

Kindern üppigen Geschlechts,

Herr, o Herr! laß dir gefallen

Tiefste Buße deines Knechts!


Was mein Vater wild gesündigt,

Hat ihm nachgethan das Land.

Neuer Greuel ist verkündigt;

Drum ersticke du den Brand!


Wieder Einer ist geboren!

Sei, o Herr, es nicht zum Fluch!

Ist zum Retter der erkoren,

Lieg' ich gern im Leichentuch!«


Auf der Streu' sinkt er zusammen,

Keiner eignen Schuld bewußt;

Fremde Missethaten flammen

Brennend in der keuschen Brust.


Des Gewissens Glut zu dämpfen

Speist er Arme nah und fern:

»Helft mir beten, helft mir kämpfen,

Kommt, ihr Höflinge des Herrn!«


Und so gehet, rein von Fehle,

Nach gedehnter Erdenpein

Endlich die gequälte Seele

Hoffend in den Himmel ein.


Doch am Thor der Herrlichkeiten

Mahnt den Geist der Welt Geschick,

In die Niederung der Zeiten

Wirft er einen scheuen Blick.


Und was schaut er? überbordet

Ist vom Blute Land und Thron.

Königmordend und gemordet

Stürzt zum Pfuhl sein Sohnessohn.
[244]

Weh! der Wahnsinn strecket Larven

In die Seligkeit herein –

Da erklingen Wunderharfen,

Da sprüht auf der Himmel Schein.


Und der Erde ganz Gedächtniß,

Blut, Geschlecht, Geschichte sinkt.

Nur der Ewigkeit Vermächtniß

Einem neuen Engel winkt.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 242-245.
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